© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/11 18. Februar 2011

Der Flaneur
Freie Steppe
Josef Gottfried

Ein Gang zwischen zwei metallenen Regalen, ich atme durch die Nase ein, fast keine Gerüche, nur zwei deuten sich an: der Teppich und das Papier. Ich passiere die Bücher, langsam, fahre mit den Fingerspitzen an ihren Rücken entlang. Mein Gehirn fühlt sich benommen, aber zufrieden an – wie eine von wenigen Reiternomaden bewohnte Pufferzone zwischen zentraler und peripherer Moderne: Die Frage nach der Kopplung zwischen Herrschern und Beherrschten ist von geringer Relevanz. Die Hierarchien sind so klar, daß nicht geherrscht zu werden braucht.

Hier, in der freien Steppe, wissen wir alles über unsere Nachbarn, über ferne Kontinente, Vergangenheit, Zukunft, alles über Lebendige und Tote. Jedenfalls alles, was die Welt weiß. Ob zentral oder peripher, uns scheinen beide Seiten suspekt zu sein. Vielleicht wegen des Nexus zwischen Lebenskraft und Boden, aber wohl eher wegen unserer eintausend Dialekte, von denen viele, Zauberformeln gleich, sowohl den aufgeregten Narren als auch den einfachen Weisen da draußen unklar bleiben müssen.

NK 4700 – russische Geschichte, GM 3964 – Annäherungen an Ernst Jünger, WB 4072 – eine Einführung in die Cytologie. Es geht ins Unendliche, Milch und Honig, gebratene Hühner. Einem großen Dichter wird nachgesagt, daß er sich in Bibliotheken wie in der Gegenwart eines großen Kapitals gefühlt habe, das geräuschlos unberechenbare Zinsen spende.

Ich habe das Ende der Regale erreicht, meine Finger berühren das Metall der letzten vertikalen Strebe. Gewiß hatte Goethe recht – wer kann schon wissen, was an all diesen Tischen hier, in der großen Bibliothek, erforscht und geschaffen wird. Die Lesenden, Schreibenden, Lernenden, Tuschelnden, Kichernden und Denkenden. Wer gegen Mittag diesen Ort der Macht betritt, hat Schwierigkeiten, einen freien Tisch zu finden. Weil an allen gearbeitet wird.

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