© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

CD: Pop
Sirenen von dieser Welt
Georg Ginster

Zu den Illusionen jeglicher Vergesellschaftung gehört die Vorstellung, daß der einzelne beseelt ist und tief in ihm etwas schlummert, das einer anderen, ungleich wertvolleren Sphäre als seine alltäglichen Bedürfnisse und Handlungen zugehörig wäre. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß als Veranlassung für einen respektvollen Umgang miteinander von Menschenwürde gesprochen werden kann, für die es im Lebensvollzug ansonsten nur selten Anhaltspunkte gibt. Künstlerische Avantgarden vom Sturm und Drang bis zum Surrealismus haben versucht, diese Annahme produktiv zu nutzen. Dabei mußten sie ihr jedoch auf den Grund gehen, ein Unterfangen, das in der Regel nicht frei von Enttäuschungen blieb.

Anderen zu signalisieren, daß man vielleicht gar nicht die belanglose Alltagsexistenz ist, für die sie einen halten, ist auch für den einzelnen eine unverzichtbare Überlebensstrategie. Sie läßt sich durch den Rückgriff auf popmusikalische Angebote bequem und preiswert verfolgen. Auch und gerade für jene, die als tiefsinnig, verletzlich und abgründig wahrgenommen werden wollen, bieten sich hier vielfältige und immer neue Chancen. Ganz aktuell zum Beispiel die kalifornische Band Warpaint, lauter junge Frauen, die nicht müde werden, ihre Einbettung in ein kreatives künstlerisches Umfeld mit so manchen Berühmtheiten zu betonen und daher das Zeug dazu haben, für angesagt gehalten zu werden. Musikalisch sind sie auf ihrer Debüt-CD „The Fool“ (Rough Trade) zwar nicht ganz so originell, man kann entstaubte Anleihen von The Cure oder den Cocteau Twins, aber auch Anklänge an frischere Ware wie etwa Fever Ray heraushören. Hinsichtlich ihres Habitus haben sie jedoch ihr Alleinstellungsmerkmal auf Anhieb gefunden: Sirenen, die nicht entrückt ins Traumreich, sondern von dieser Welt sind, keine hauchzarten Sensibelchen, aber auch keine schamanistischen Furien, eher Sex-and-the-City-Figuren, die es in den Wald ans Lagerfeuer verschlagen hat.

Einer spontanen Vereinnahmung zur Arrondierung des eigenen Persönlichkeitsprofils entzieht sich hingegen die ebenfalls neu auf dem Markt agierende britische Band Esben and the Witch, die sich nach einem dänischen Märchen benannte. Der auf ihrem Debüt „Violet Cries“ (Matador) konsequent durchgehaltene Habitus ist einer der in stoischer Ruhe vorgetragenen Unzugänglichkeit voller Eiseskälte. Wer sich hier bedient, kann sich perfekt als Rätsel inszenieren, gerät aber ob seiner Kommunikationsverweigerung in Erklärungsnot, da keine Hintertür zur Verharmlosung offensteht. Von Post Rock bis zu Trip Hop reichen die musikalischen Bezüge, der der Band zugedachte Begriff „Nightmare Pop“ dürfte daher nur ein vorübergehender bleiben.

Eher an Jungens, die über aller Sensibilität nicht ganz auf Härte und Schnelligkeit verzichten wollen, wendet sich die Band Veil Veil Vanish mit ihrer CD „Change in the Neon Light“ (Mindbase). Auf ihr klingt alles so, als wären die Wischmopfrisurenträger von The Cure kurz vor „Desintegration“, also vor mehr als 20 Jahren, mit der Erwartung stehengeblieben, daß von nun an der beständige Wiederaufguß für den Rest der Ewigkeit langt. Beruhigend ist allenfalls, daß diese Band nicht aus der Gothic-AG eines deutschen Gymnasiums entwuchs, sondern sich an der amerikanischen Westküste formierte.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen