© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/11 25. Februar 2011

Wo der Schlaf dem Erwachen weicht
Erkenntnis der höheren Welten: Der Esoteriker Rudolf Steiner und die Anthroposophie
Wolfgang Saur

Mit dem 21. Jahrhundert haben Religion und kulturelle Tradition ihre Aufgabe, dem Leben Sinn und Orientierung zu verleihen, an den einzelnen Menschen übergeben. Wir Menschen sind damit in vollem Umfang unserer Existenz bei uns selbst angekommen.“ Die „Größe und Herausforderung“ bestehe nun darin, sich selbst „Leitlinien“ zu geben, will man sich „in den Angeboten der materiellen nicht verlieren“. So lautet die anthroposophische Botschaft, nachzulesen im Programmtext der Freien Hochschule am Goetheanum in Dornach. „Dabei bricht häufig das Bedürfnis auf, ein bewußtes Verhältnis zur geistigen Welt zu gewinnen. (…) das war die Lebensleistung Rudolf Steiners.“

Rudolf Steiners 150. Geburtstag am 27. Februar wirft seine Schatten voraus. Allenthalben wird er festlich begangen, eine dichte Reihe von Feiern und Infoprojekten überzieht Europa. Schon hört man von Veranstaltungen aus Manila, in Skandinavien, Indien, ja aus Japan. Gibt es doch anthroposophische Niederlassungen in 59 Ländern, so die angesehenen Waldorfschulen.

Begründet hat sie der Mann, dem geistesgeschichtlich wohl einzig eine Verbindung von Esoterik und Praxisbezug dauerhaft gelang. Pädagogik, Ästhetik, Landwirtschaft, Heilkunde, soziale Organisation und Geisteswissenschaft, bis hin zur Errichtung der „Christengemeinschaft“ gehen auf Initiativen Steiners zurück.

Dessen Nachwirkungen bezeugen Kraft und Universalität seiner Lehre. Die provozierte Spott, wurde von den Nationalsozialisten verfolgt und sieht sich heute dem demagogischen Politsprech der Antifa ausgesetzt. Anders freilich als die apokryphen Gurus kleiner Sondergemeinschaften, deren subkulturelle Rand-existenz in der modernen Gesellschaft unsichtbar bleibt, ragte Rudolf Steiner von Beginn an hervor. Wirkte er doch in voller Öffentlichkeit. Mit der von ihm begründeten Anthroposophie schuf er ein weltanschaulich umfassendes, bald schon institutionalisiertes System als deutsche Variante der internationalen Theosophie.

Christliche Weisheit strebt nach dem inneren Wort

Deren Gründer teilten die universalreligiösen Bestrebungen der Zeit und positionierten sich gleichermaßen kritisch gegen Wissenschaft wie Kirchen. Ihre Lehren schöpften sie aus altem, oft verketzertem Traditionsgut; dem Adepten verhießen sie geistliches Wachstum. Ihr Weltbild vereinigte vier geschichtliche Ideen: christliche Theosophie, Gnosis, Esoterik und das (neo-)hinduistische Ideal.

Erstere geht zurück auf Johannes und die paulinische Rede vom toten Buchstaben und dem lebendigen Geist. Christliche Weisheit strebt so nach dem wahren Licht und inneren Wort des heiligen Texts.

Gnostisch meint: das Heil übernatürlicher Erkenntnis. Erlösung bringt der Aufstieg zur Wesensmitte, wo sich die göttliche Dimension auftut und der Schlaf dem Erwachen weicht.

Die esoterische Denkform hat An­toine Faivre ermittelt. Er identifiziert sechs Aspekte: das Denken in Entsprechungen; den Kosmos als lebendigen Organismus; die symbolische Einbildungskraft; die Erfahrung innerer Wandlung; die Praxis der Konkordanz; schließlich die Weitergabe durch den Meister.

Nicht zuletzt spielt der indische Bezug eine große Rolle. Das betraf schon die Zentrale der Theosophen in Madras. Deren imposante Chefin seit 1907, Annie Besant, proklamierte in ihrer „Uralten Weisheit“ „eine allen Religionen zugrundeliegende Einheit“. Dieser Monismus entspricht der Lehre von der Nicht-Dualität, die die zahlreichen Kulte und bunten Zeichen Indiens hintergründig umfaßt. Mit dieser integralen Weltanschauung, die Verschiedenheit und Einheit im Symbol des Rades dialektisch versöhnt, hatte kurz zuvor Vivekananda auf dem „Weltparlament der Religionen“ in Chicago 1893 für sein Land geworben.

Hier gründeten die drei Ziele der Theosophie: erstens, die Bildung einer überkonfessionellen „Bruderschaft der Menschheit“; zweitens, das Studium der östlichen Weltanschauungen und drittens des Okkultismus, also der esoterischen Ideen Europas.

Rudolf Steiner wurde am 27. Februar 1861 in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Bahnbeamten im kroatischen Ort Kraljevec geboren. Ein Stipendium ließ ihn Mathematik und Naturwissenschaften an der Wiener TH (1879–1883) studieren. Seine über den formalen Bildungsgang hinausstrebende musisch-geisteswissenschaftliche Orientierung trug ihm bald die prominente Rolle eines Editors von Goethes naturkundlichen Schriften bei den Monumentalprojekten von Kürschners Nationalliteratur und der Weimarer Sophienausgabe (1884–1897) ein. Diese ausgiebige Beschäftigung mit Goethes „konkreter“ Naturbetrachtung, dessen Erfahrung der Idee im organischen Leben selbst und seinem anschaulichen Symboldenken prägte Steiner enorm, nachlesbar im Buch über „Goethes Weltanschauung“ (1897). Dort trat er rationaler Spaltung schrill entgegen und pries Goethes ganzheitliches Denken der Urphänomene. Steiners holistischer Ansatz und seine kosmologische Orientierung wurzeln hier.

Doch fügte zunächst ein zweiter Gedankenstrang eine robust subjektphilosophische Komponente dazu. Sie verband den wuchtigen Idealismus Fichtes mit dem Anarchisten Max Stirner und dem Zertrümmerer Nietzsche. „Die Philosophie der Freiheit“ (1894) und „Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit“ (1895) zeigen einen voluntaristischen Existentialismus, der unerschrocken Nietzsches wildes Spätwerk beerbt. Atheismus, scharfe Wissenschaftskritik, ja Verwerfung des Wahrheitsprinzips ebnen Steiner die Bahn für eine radikal konstruktivistische Weltsicht. Der „Übermensch“ in seiner Selbstherrlichkeit wird zum konventionssprengenden Ideal.

Persönlicher Fortschritt und kosmische Evolution

In diesen Jahren ist Steiner ein wilder Berliner Bohemien. Er unterrichtet an Liebknechts Arbeiterbildungsschule (1899–1904) und mischt den hauptstädtischen Kulturbetrieb auf. Er verkehrt im Friedrichshagener Dichterkreis von Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, gründet „Die Kommenden“. Die Nächte durchzecht er mit Literaten wie Frank Wedekind, Peter Hille und Stefan Zweig, Anarchisten wie John Mackay und Erich Mühsam, emanzipierten Frauen wie Ellen Key und Käthe Kollwitz oder dem Sexualreformer Magnus Hirschfeld. Damals schreibt er: „Wir wollen Kämpfer sein für unser Evangelium“, „ein neues Geschlecht entstehe, das zu leben weiß (…) heiter und stolz, ohne Christentum, ohne Ausblick auf das Jenseits“.

Wenig später war Steiner der Chef der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft (1902–1912), sprach über Mystik und spirituelles Christentum und veröffentlichte in rascher Folge (1904–1909) seine Hauptwerke: „Theosophie“, „Wie erlangt man Erkenntnis der höheren Welten?“, „Akasha-Chronik“ und „Die Geheimwissenschaft im Umriß“.

Diese Neuorientierung bewirkte erkenntlich eine Verschiebung: vom existentialistischen Menschenbild zum religiös Erleuchteten, von der immanenten Erkenntnis zur Metaphysik, von der anarchischen Praxisorientierung zur Kosmologie.

Gegenüber London und Madras beharrte Steiner indes auf seinem europäisch-christlichen Hintergrund. Heilsgeschichtlich galt ihm Christus als Mitte der Zeit. Deshalb die Spannung mit Annie Besant, die 1911 den Hindu-Knaben Jiddu Krishnamurti als kommenden Weltheiland ausrief. So kam es zum Bruch, aus dem 1913 die Anthroposophische Gesellschaft hervorging.

Schnell entwickelte sich die neue Gemeinschaft in breiter Streuung (mit 2.500 Anhängern in 54 deutschen Städten), bald mit Hauptsitz im schweizerischen Dornach, wo Steiner mit dem Goetheanum (1922/28) sein Gesamtkunstwerk realisierte. Nach der ersten Waldorfschule (1919), der ersten Pharmafirma Weleda (1921) und der „Christengemeinschaft“ (1922) gliederte er seinem Zentrum eine „Freie Hochschule“ (1923) an.

Als grundlegend gilt das Lehrsystem, das sich fünfdimensional darstellt: in Prinzipienstudium und geistliche Praxis (Erkenntnisweg, Selbsterziehung, Meditieren); Menschenkunde; Reinkarnation und Karma; Christologie und Hierarchielehre und Entwicklungs- und Zeitfragen.

Steiners Weltbild verbindet Seinsstufen und Bewußtseinsschichten mit dreigliedrigen Lebensformen, vom Naturreich über den Menschen bis zur sozialen Dreigliederung. Persönlicher Fortschritt und kosmische Evolution sollen „die dritte christliche Zeitepoche vorbereiten“. Es war also Joachim von Fiores Weltenlehre vom Vater, dem Sohn und heiligen Geist, die Steiner mythisch beschwor.

In dieser frohen Erwartung ist er in Dornach am 30. März 1925 verstorben, erschöpft nach seinen 6.000 Vorträgen, die er über zwanzig Jahre lang unentwegt gehalten hatte – mithin nach kurzem, doch tatenreichem Leben.

„Auch in der geistigen Welt“, so Steiner, „gibt den Prüfstein das Leben selbst.“

Walter Kugler: Rudolf Steiner und die Anthroposophie. Eine Einführung in sein Lebenswerk. Dumont, Köln 2010, broschiert, 318 Seiten, 12,95 Euro

Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland e. V. Arbeitszentrum Berlin:  www.agberlin.de

Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft: www.goetheanum.org

Infoportal: www.anthromedia.net

Foto: Rudolf Steiner (1861–1925): „Wir wollen Kämpfer sein für unser Evangelium“

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