© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

„Das kann keiner überstehen“
Er ist Staatsminister und Viktor Orbáns Vertrauter. Zoltán Balog über den Sturm auf Europa, Ungarns EU-Ratspräsidentschaft und das umstrittene ungarische Mediengesetz
Moritz Schwarz

Herr Staatsminister, Italien schlägt Alarm: Rom rechnet mit 300.000 bis einer Million Flüchtlinge allein aus Libyen. Außenminister Frattini spricht gar von einem drohenden Exodus „biblischen“ Ausmaßes.

Balog: Menschen in Not muß natürlich geholfen werden, das ist unsere christliche Pflicht als Europäer, kein Zweifel. Aber eine solche Masseneinwanderung könnte kein System überstehen. Deshalb müssen die Probleme vor Ort gelöst und nicht exportiert werden.

Ungarn hat seit Beginn des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft inne, dadurch steht die Regierung, der Sie angehören, derzeit im Zentrum des europäischen Prozesses.

Balog: Ungarn hat seine Ratspräsidentschaft unter das Motto gestellt: „Für ein starkes Europa!“ Und für uns besteht kein Zweifel, daß Europa dann stark ist, wenn seine nationalen Mitgliedsstaaten gestärkt werden. Was die sich abzeichnende aktuelle Flüchtlingsproblematik angeht, da steht die Ratspräsidentschaft allerdings seit Einführung des EU-Außenbeauftragten durch den Lissabon-Vertrag eher in der zweiten Reihe. Denn der Ratspräsident vertritt die EU eher in fachpolitischen Bereichen nach außen als im klassischen außenpolitischen Bereich. Aber natürlich haben wir unsere Verantwortung wahrzunehmen, die Europäische Union möglichst zu einem gemeinsamen Handeln zu führen, das dann Grundlage für die Arbeit der EU-Außenbeauftragten Lady Ashton ist.

Der deutsche Bundesinnenminister warnt vor „Panikmache“ und davor, einen „Flüchtlingsstrom herbeizureden“.

Balog: Niemand kann sagen, was kommt, gute Politik aber ist vorbereitet. Ich bin überzeugt, daß Europa einen solchen Ansturm, sollte er tatsächlich erfolgen, nicht bewältigen kann. Überhaupt können Krisen nicht gelöst werden, indem Menschen massenhaft auswandern. Nach unserer Auffassung sollten sie in ihrer Heimat, dort wo sie geboren worden sind, glücklich werden. 

Die meisten deutschen Medien fordern, die EU solle bezüglich der Krisen in Nordafrika endlich mit einer Stimme sprechen.

Balog: Sicher gibt es Themen, bei denen ein gemeinsames Auftreten besser ist. Aber ich meine, Europa sollte nicht auf seine nationalen Außenpolitiken verzichten. Denn die europäischen Nationen sind doch so verschieden – und auch unsere nationalen Interessen sind nicht einfach auf einen gemeinsamen Punkt zu bringen. Hier muß eine bestimmte Eigenständigkeit fortbestehen und die nationale Freiheit zu einer eigenen Außenpolitik bewahrt werden.

Ist dann aber die Einrichtung eines EU-Außenbeauftragten nicht ein Holzweg?

Balog: Nun ja, sehen Sie, unlängst wohnte ich als Repräsentant der EU und Ungarns zugleich einer Sitzung der Uno bei. Ich muß zugeben, es war mir dann doch sehr eindrücklich, wie viele Afrikaner, Asiaten und Amerikaner uns Europäer doch schon als eine Einheit wahrnehmen. Das entspricht zwar ganz und gar nicht meiner eigenen politischen Binnenwahrnehmung, aber viele außerhalb Europas sehen das so.

Zielt die Einrichtung des EU-Außenbeauftragen nicht darauf ab, nationale Außenpolitik langfristig abzuschaffen?

Balog: Da gibt es natürlich eine Eigengesetzlichkeit: Wenn solche Institutionen erstmals geschaffen sind, dann sind sie per se in der Versuchung, ihre Kompetenzen immer mehr auszuweiten. Aber Ungarn setzt darauf, daß eine kluge und entschlossene Politik solchen Tendenzen Einhalt gebietet. Die Souveränität der EU-Mitgliedsländer sollte nicht beeinträchtigt werden.

Sie gehören der nationalkonservativen Partei Fidesz an, die zwar im Europäischen Parlament mit der CDU/CSU gemeinsam in der christdemokratischen EVP-Fraktion sitzt, aber im Gegensatz zur deutschen Union viel stärker die nationalen Interessen Ihres Landes betont.

Balog: Fidesz nennt sich eigentlich eine Mitte-Rechts-Partei, aber ich glaube „nationalkonservativ“ ist auch nicht so schlecht. Wie Sie wissen, wurde unsere Politik in letzter Zeit heftig angegriffen,  Stichwort: Mediengesetz. Das mag vielleicht auch damit zusammenhängen, daß mancher gegenüber dem politischen Profil unserer Partei Vorbehalte hat. Und natürlich ist in gewissen Kreisen eine Angst entstanden, weil Fidesz so erfolgreich beim Wähler ist: Immerhin verfügen wir inzwischen über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Aber wem das nicht paßt, der müßte eigentlich nicht uns, sondern die Wähler rügen.

Der Streit um das ungarische Mediengesetz hat EU-weit für Wirbel gesorgt (JF berichtete). Ihr Chef, Ministerpräsident Orbán, verkündete, er lasse sich von den Westeuropäern nichts vorschreiben, nichts werde an dem Gesetz geändert. Nun haben Sie sich mit der EU auf Änderungen verständigt. Haben Sie sich Brüssel doch gebeugt?

Balog: Nein, ich würde sagen, wir haben einen Kompromiß geschlossen. Tatsächlich ging es ja nur um drei, vier Punkte, die eher technischer Natur sind.

Das hörte sich in der deutschen Presse vielfach anders an: Ungarn sei „auf dem Marsch in den Führerstaat“, die Fidesz-Politik erinnere an „die Frühphase des NS-Regimes“.

Balog: Wenn ich diese Kritik inhaltlich ernstnehmen würde, müßte ich mein Land aufgeben. Nein, diese Verbalität, das Pathos, hier ginge es um die europäische Demokratie an sich, hat das Problem nur verschärft, statt zu dessen Lösung beizutragen. Ich bin froh, daß die EU-Kommission sich davon nicht hat beeindrucken lassen und die Debatte auf die sachliche Ebene zurückgeführt hat.

Sie gelten als Freund und persönlicher Berater Viktor Orbáns. Hat ihn diese Kritik persönlich getroffen?

Balog: Viktor Orbán hat sich bereits daran gewöhnt, daß er gern in ein Licht gestellt wird, das seiner Persönlichkeit nicht gerecht wird. Insofern hat es ihn  persönlich nicht allzu sehr erschüttert. Er ist das Problem professionell angegangen, hat die Kritik zurückgewiesen und gleichzeitig auf europäischer Ebene eine Lösung gesucht: Er trennte unser gut vorbereitetes Programm für die Ratspräsidentschaft von der Kritik, die die ungarische Innenpolitik betraf. Man kann ja verstehen, daß es Friktionen zwischen den EU-Ländern gibt, aber ein Land herauszupicken und so dicht mit Kritik von solcher Art zu überziehen, das ist schon sehr befremdlich.

Ihr Mediengesetz enthält allerdings in der Tat fragwürdige Passagen: etwa hohe finanzielle Strafen und ein Verbot für „unausgewogene“ Berichterstattung – das kann sich rasch zum Gummi-Paragraphen entwickeln.

Balog: „Unausgewogenheit“ wird nicht mit Strafe belegt, sondern nur festgestellt. Und gegen jeden Beschluß der Medienbehörde kann man Berufung bei Gericht einlegen, wie das in einem Rechtsstaat zu erwarten ist. Im übrigen möchte ich alle Kritiker Ungarns einmal bitten, auch die Mediengesetze anderer Länder unter die Lupe zu nehmen. Sie würden sich wohl wundern, was sie da alles finden, das irgendwelchen europäischen Regelungen widerspricht. Was mich erschreckt, ist diese Stilisierung eines politischen Dissens zu einer metaphysischen Frage: dem Kampf Gut gegen Böse. Da waren zeitweilig, vor allem durch die maßlose Kritik der europäischen Linken, die Maßstäbe völlig verrutscht.

Bundeskanzlerin Merkel, die Sie ja aus den EU-Verhandlungen auch persönlich kennen, hat sich zum Teil davon anstecken lassen. Sind Sie von ihr enttäuscht?

Balog: Nein, es war weniger Frau Merkel, sondern vor allem, was Außenamtsstaatsminister Werner Hoyer von der FDP gesagt hat, das ich als unglücklich empfunden habe. Aber im Bundestag – ich habe die Debatte nachgelesen – gab es dann doch auch sehr vernünftige Redebeiträge dazu.

Wozu braucht Ungarn überhaupt dieses Mediengesetz?

Balog: Das Fatale ist, daß die meisten Kritiker und Beobachter die Wurzeln unseres Problems gar nicht sehen: In Ungarn gehen radikale soziale Veränderungen vor sich. Aber um diese zu verstehen, muß man nicht nur in die letzten zehn Monate, sondern in die letzten zehn, zwanzig Jahre zurückschauen. In unserem Land hat sich nach dem Aufbruch von 1989 inzwischen eine erhebliche Enttäuschung über die Demokratie eingestellt. Dieses Gefühl der Bürger muß eine Regierung auffangen: Die Bürger wollen eine Regierung, die handelt, die die Probleme anpackt, die zeigt, daß Demokratie dazu in der Lage ist, die Probleme des Landes zu lösen. Um dies unter Beweis zu stellen, muß die Regierung handlungsfähiger werden und den Stau, der in Ungarn in den letzten zwanzig Jahren durch das politische Patt der Eliten entstanden ist, auflösen.

Zum Beispiel?

Balog: Unser Verfassungsgericht war etwa seit über zehn Jahren nicht mehr vollbesetzt. Unsere Medienräte haben überhaupt nicht mehr funktioniert. Seit vier Jahren ist die staatliche Aufsicht über die ungarische Kommunalverwaltung lahmgelegt. Das zum Beispiel ist die Situation. Viktor Orbán hat als erster in Europa davon gesprochen, daß Banken besteuert werden sollen. Folge: Große Empörung! Inzwischen redet aber jeder in Europa über Banken-Steuern. Vor diesem Hintergrund ergibt sich ein ganz anderes Bild: nämlich, daß die Demokratie hier nicht „zugrundegerichtet“, sondern daß wir, indem wir gesetzlich  Handlungsspielraum zu gewinnen versuchen, dabei sind, diese zu retten. Das müssen die Europäer einmal verstehen, sonst werden vielleicht ganz andere Kräfte in Ungarn bald erfolgreich sein.

Sie sprechen von der extremen ungarischen Jobbik-Partei.

Balog: Ungarn hat zehn Millionen Einwohner, davon leben drei Millionen unterhalb der Armutsgrenze. Fidesz hat im Wahlkampf versprochen, in den nächsten Jahren eine Million Arbeitsplätze zu schaffen. Die Wähler von Jobbik sind heute für den Sozialpopulismus empfänglich. Ungarn hat die niedrigste Beschäftigungsrate in der EU. Es gibt Gebiete in unserem Land, wo der Staat in den letzten Jahren regelrecht „auszog“. Die Folgen sind fehlende Infrastruktur, keine gute Schulen, keine ausreichende soziale Versorgung, hohe Kriminalität, Schattenwirtschaft und Chancenlosigkeit. Die Menschen hier sollten sehen, daß wir bereit sind, etwas für sie zu tun.

Sie sind Staatsminister für soziale Integration. Was würde es konkret bedeuten, wenn angesichts dieser Lage tatsächlich Millionen Flüchtlinge übers Mittelmeer kämen?

Balog: Wenn es jetzt zu einer Masseneinwanderung aus Nordafrika käme, muß man sagen, daß Ungarn noch weniger darauf vorbereitet wäre als andere Länder. Wir haben kaum Erfahrung. Zwar hatten wir eine Einwanderungswelle in der Zeit des Balkankriegs, aber das waren vor allem Auslandsungarn, die wir damals aufgenommen haben. Wenn die EU Flüchtlinge aufnimmt und nach einem Schlüssel verteilt, dann wird sich Ungarn seinen Pflichten trotzdem nicht verweigern. Aber was etwa die Belastung unserer Sozialsysteme angeht, wäre hier natürlich die europäische Solidarität gefordert.

Sprich, die Flüchtlinge würden zwar gleichmäßig verteilt – aber die Kosten dafür blieben bei den reicheren EU-Ländern, wie etwa Deutschland, hängen?

Balog: Im Grunde, ja. Und deshalb werden wir als Ratspräsidenten ja auch um so mehr darauf drängen, daß die Probleme möglichst vor Ort gelöst werden.

Ist denn das realistisch? Schreckliche Szenen von ertrinkenden Flüchtlingen in den Medien führen doch über kurz oder lang dazu, daß diejenigen Politiker, die Europa vor einem Massenansturm schützen wollen, unter moralisch-medialen Druck genommen werden, bis die EU klein beigibt.

Balog: Diese Gefahr besteht, aber Politiker sind dafür da, daß sie – wenn die eigenen Wähler oder das eigene Volk gefährdet sind – solchem Druck nicht nachgeben, sondern widerstehen! Das erwarten die Wähler von den Vertretern, die sie gewählt haben.

Die Erfahrung ist aber meist eine andere.

Balog: Lassen Sie es uns offen aussprechen: Der humanitäre Aspekt gilt auch für unsere Bürger. Auch ihr Wohl ist ein wichtiger Aspekt. Wir sollten keinem falschen Druck nachgeben, weil das am Ende die Stabilität unserer Länder gefährdet – und wir sind als Politiker in erster Linie für unsere eigenen Länder verantwortlich. Wir haben selbst Probleme in Europa, die wir kaum verkraften, und wir sollten die Probleme anderer nur unter dem Gesichtspunkt in Angriff nehmen, daß wir zuerst der Lösung der Probleme unserer eigenen Bürger verpflichtet sind. Wir dürfen die Probleme also nicht nur auf romantisierende Weise, sprich nicht nur als Menschenrechtsproblem, wahrnehmen. Das sind sie ohne Zweifel auch, das will ich gar nicht bestreiten, und ich wiederhole: Wir Europäer haben auch die moralische Pflicht, humanitär zu helfen! Aber wir dürfen die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen einer solchen Masseneinwanderung nicht ausblenden. Auch deshalb nicht, weil sonst früher oder später die fatale Gegenreaktion in Gestalt extremer Parteien kommen würde.

 

Zoltán Balog, ist Staatsminister für soziale Integration der ungarischen Regierung und gilt als persönlicher Vertrauter von Ministerpräsident Viktor Orbán. Der studierte Theologe, Jahrgang 1958, war bereits 1998 bis 2002 offiziell Chefberater im Ministeramt Orbáns in der Zeit dessen ersten Kabinetts. Danach leitete er die Abteilung für Sozialpolitik im Büro des ungarischen Staatspräsidenten und war Abgeordneter des Parlaments, dessen Ausschuß für Minderheiten- und Menschenrechtsfragen er vorsaß. Obwohl selbst parteilos, vertritt Balog die als „nationalkonservativ“ (NZZ) beziehungsweise „rechtspopulistisch“ (Zeit) geltende Partei Fidesz („Bund junger Demokraten“), die wichtigste bürgerliche Partei Ungarns, die seit 2010 mit Zweidrittelmehrheit regiert.  www.fidesz.hu

 

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