© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Der Mann, der sich am Eise wärmt
Gnade ist Standhalten im Absturz: Der Schriftsteller und Lyriker Ulrich Schacht wird nächste Woche sechzig
Harald Seubert

Ein besonderes Leben schon von Anfang an: Es beginnt an einem frühen Märztag 1951 im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck, wo seine Mutter wegen „Verleitung zum Landeshochverrat“ einsaß. Die Dichte an Schicksal und die mit ihr verbundene Sehnsucht nach Freiheit gehörten für Schacht zusammen. Ein Satz des italienischen Schriftstellers Cesare Pavese trifft deshalb ins Zentrum seines Selbstverständnisses: „Wir sind auf der Welt, um das Schicksal in Freiheit zu verwandeln.“

Damit begann Ulrich Schacht schon früh. Der Prager Frühling, den er direkt miterlebte, und vor allem die Gestalt von Alexander Dubcek prägten sich ihm unverlierbar ein; der junge Student der Evangelischen Theologie an der Universität Rostock und der Predigerschule Erfurt wird 1971 zum Stasi-beäugten Vordenker und Fokus einer Gruppe von Menschen, die, wie er damals schrieb, „erkannt haben, wo das Übel in der sie umgebenden Umwelt steckt, die aber auch, schlußfolgernd, bereit sind, gegen das Übel anzutreten“.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits einiges an Leben hinter sich. Er hatte eine Bäckerlehre abgeschlossen und war Pfleger in der Psychiatrie gewesen. Bis zum März 1973 hatte sich dann das Netz von Überwachung immer dichter um ihn zusammengezogen; es kam nicht unerwartet, aber doch erschreckend, „Eiswasser auf nackter Haut mitten im Winter“. Schacht wurde wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haftzeit im Stasi-Gefängnis in Schwerin halten ihn Camus’ Meditationen über das Absurde überlebensfähig: sind es doch Fragen nach dem Sieg inmitten der Niederlage.

Er erlebt den Versuch, ihn mit einer hohen Strafe zu brechen, was aber vollkommen mißlingt. Der zweiten deutschen Diktatur konnte Schacht deshalb niemals etwas nachsehen, den schönfärberischen Legenden von der „antifaschistischen“ Motivation der Täter hat er mit der Autorität zur Anklage widersprochen.

Der Luthersche Begriff der Gnade – Standhalten im Abgrund – wurde die weitere Signatur, in der er seine Haftzeit interpretieren konnte. Von hierher wurde er einer der tiefsten und geistreichsten Lutheraner. Die Haft endet mit dem Freikauf 1976. Schacht studierte Politische Wissenschaften und Philosophie in Hamburg, er war in der Welt und der Welt am Sonntag Chefreporter für Kultur und Feuilletonredakteur. In nahezu allen namhaften Zeitungen und Periodika publizierte er.

Zu der Umzeichnung des Schicksals in Freiheit gehört auch die politische Publizistik, die ihn zusammen mit Heimo Schwilk 1994 den Sammelband „Die selbstbewußte Nation“ konzipieren läßt. Sie nimmt den Faden von Botho Strauß’ Essay „Anschwellender Bocksgesang“ auf und rüttelt, im Wogenschwall des Jahres 1989, an den gleichsam zivilreligiösen Prägungen der alten Nachkriegsordnung. Man weiß, daß jenes berechtigte Signal nicht die Wirkung entfalten konnte, die zu wünschen gewesen wäre. Wenn er heute im Süden Schwedens lebt, so ist dies nicht Zeichen von Resignation oder gar einer „Emigration“, sondern der Weisheit, die Freiheit zu bewahren. Schacht macht sich damit Ernst Jüngers Maxime zu eigen: „Der Autor ist souverän. Die Politik kann in seine Biographie und in sein System passen – nie aber er in das ihrige.“ Politik hat bei Schacht, im Sinne Hannah Arendts, ihren Sinn in der Freiheit, und zugleich ist sie – mit Luther und Bonhoeffer – nur ein Vorletztes.

Damit berührt man Schachts bedeutendes literarisches Werk. Er ist – zuerst  und zuletzt – ein großartiger Lyriker, der Töne größter Zartheit mit der Beschwörung der Urmacht von Natur zu verbinden weiß. Vor allem dem Norden, Dänemark und Schweden, aber auch der norwegischen und russischen Arktis hat er bleibende Epitaphe gewidmet.

Seine Gedichte, die Celan und Huchel zum Maßstab nehmen, atmen „Reale Gegenwart“ (George Steiner). Sie haben die ästhetische und menschliche Kraft zu rühmen und zu trauern. Schacht ist einer der ganz wenigen Dichter der Gegenwart, die vor dem metaphysischen, in den Kern der Welt hindurchdringenden Blick nicht zurückscheuen. Eine seiner Sammlungen von Naturgedichten beschließt ein souveräner naturphilosophischer Essay, der im Bogenschlag von Heraklit bis Schelling und Heidegger jene tiefere Beziehung zur Wirklichkeit evoziert, die der naturwissenschaftlichen Rationalität entgehen muß. Wunderbar seine Confessio aus jüngster Zeit: „Der Naturpoet ist Platoniker, oder er ist keiner. Denn er ahnt, was er sieht; er weiß aber nicht, was er ahnt. Das, und nur das, ist sein Verhältnis zur Realität, das nicht darauf besteht, ihr Verhältnis zu ihm durchsichtig zu machen.“

Auch der Prosa-Schriftsteller Schacht gebietet über vielfache Register – nicht minder als der Redner. Eindrucksvoll gegenüber leisetreterischen Mainstream-diskursen ist seine Lutherische Sprachmacht und sichtliche Lust zur Polemik. Daneben findet sich eine Vergegenwärtigungskraft, die in die innere und äußere Geschichte gleichermaßen einzutauchen vermag, an einzelnen Momenten geschichtliche Linienzüge von größter Tragweite zu verdichten weiß.

Ulrich Schachts Werk ist noch lange nicht abgeschlossen: daß seine bislang umfänglichste Prosaarbeit, die autobiographische Suche nach dem russischen Vater, in den nächsten Tagen erscheinen wird („Vereister Sommer“), ist ein eindrucksvoller Beleg für das in Freiheit angeeignete Schicksal. An den vorliegenden Proben aus Sinn und Form (2/2010) kann man auch erkennen, daß Schacht ein bedeutender Diarist, auf der Höhe von Jünger oder Julien Green ist: nicht der Auslotung eigener Seelenabgründe gilt dabei sein Akzent, sondern der Durchlässigkeit für die erfahrene Welt, im Sinne eines Heideggerschen „immer schon Seins bei der Welt“. Auch davon wird man bald mehr lesen können.

Innere Kraft, Lebens- und Denkfreude und Denklust, aber zugleich hohe Sensitivität und ein wunderbar unverstelltes Vermögen zur Freundschaft teilen sich in persönlicher Begegnung mit, etwa wenn man Schacht im Kreis der Georgsbruderschaft erlebt, deren Großkomtur er seit dem Gründungsjahr 1987 ist. Tiefes Nachdenken, umfassende, befreiende Spiritualität und glanzvolle Lebenskunst kommen hier zusammen. Man spürt in solchen Stunden, woraus Schacht seine Mitte bezieht: Er hat zuviel Zeitgenossenschaft durchlebt, um vor neuen Unfreiheitsritualen den Kotau zu machen.

Mit sechzig Jahren hat er mehr erfahren als andere bis in das Greisenalter. Der Satz des von ihm bewunderten Cesare Pavese: „Man hört auf jung zu sein, wenn man versteht, daß einen Schmerz auszusprechen, an der Sache nichts ändert“, mag auf den Sechzigjährigen passen. Doch Schacht legt großen Wert darauf, daß dies nicht resignativ zu verstehen ist. Wer den Schmerz deutet, ja in bleibende Kunst verwandelt, der hat die Kraft, auch den Weltveränderungen standzuhalten: aus Gnade, versteht sich.

 

Nach einem Winter

Langsam läßt der

Himmel sein Licht

erscheinen: dem

Stein schmilzt die

gespeicherte Kälte

davon den Flüssen

gewaltige Starre in

Bäumen und Sträuchern

das Schweigen. Nun

atmen die Menschen

wieder mit Augen und

Ohren nehmen sie wahr

die kleine Lehre von

der Sinnlosigkeit des

Vergessens an einem

Tag aus endloser

Starre und Stille für

immer.

Ulrich Schacht

Ulrich Schacht: Vereister Sommer.Auf der Suche nach meinem russischen Vater. Aufbau, Berlin 2011, gebunden, 221 Seiten, 19,95 Euro Das Buch scheint am 15. März.

Foto: Ulrich Schacht in einem kleinen Hafen an der südschwedischen Bucht Skälderviken (Januar 2010): Der Lyriker weiß Töne größter Zartheit mit der Beschwörung der Urmacht von Natur zu verbinden

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