© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Die letzte Veteran
Mit dem 110jährigen US-Amerikaner Frank Buckles starb vergangenen Sonntag der letzte Soldat der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs
Christopher Toenjes

Angehörige der europäischen Armeen, die sich seit 1914 in den mörderischen Grabenkämpfen der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts gegenüberlagen, sind bereits ausnahmslos „zur großen Armee abberufen“ worden. Als letzter starb am 25. Juli 2009 der britische Veteran Harry Patch, in Großbritannien als „Last Fighting Tommy“ bekannt, im Alter von 111 Jahren in einem Pflegeheim in Somerset im Westen Englands. Zuvor bekam 2008 „der letzte Poilu“, der gebürtige Italiener Lazare Ponticelli, der als junger Einwanderer in der französischen Fremdenlegion in den Gräben des Argonnerwaldes seinen Dienst leistete, unter großer Anteilnahme der Grande Nation sein letztes Geleit. Bei der Totenfeier Ponticellis im Pariser Invalidendom wurde zu Ehren all seiner „in der Hölle des Krieges gefallenen Kameraden“ eine Messe gelesen.

Die letzten Veteranen der damaligen Feinde in den Mittelmächten sind ebenfalls 2008 gestorben, allerdings weitestgehend unbemerkt. In einigen deutschen Zeitungen fanden der Leipziger Erich Kästner und der Banater Schwabe Franz Künstler, die als letzte Soldaten ihrer Kaiser das Zeitliche segneten, als kurze Meldung Eingang ins Ressort Vermischtes. Auch Yakup Satar, der letzte Soldat des Osmanischen Reichs und Mikhail Krichevsky, letzter Kämpfer für Mütterchen Rußland, verstarben im gleichen Jahr ohne großen Pomp, vielleicht auch deshalb, weil ihre Länder 1918 gleichfalls nicht auf der Siegerseite standen. Der 1897 im jüdischen Schtetl von Donezk geborene Krichewsky, der 1917 noch vor der Oktoberrevolution für die Kerenski-Offensive rekrutiert wurde, starb sogar als ältester Ukrainer und nicht etwa als ältester Russe.

Bis vergangenen Sonntag lebten überhaupt nur noch zwei Soldaten, die während des Ersten Weltkrieges dienten: Der heute in Australien lebende „last seaman“ Claude Stanley Choules feierte am 1. März 2011 seinen 110. Geburtstag und gilt als der letzte Überlebende unter dem Befehl König George V. Mit Frank Buckles starb am vergangenen Sonntag, fast genau einen Monat nach seinem 110. Geburtstag am 1. Februar dieses Jahres, nun der letzte amerikanische Kriegsveteran des Ersten Weltkriegs und der allerletzte, der die Schlachtfelder Nordfrankreichs – wenn auch nur als Krankenwagenfahrer – erlebte. Frank Buckles lebte in Charles Town, West Virginia, in der unmittelbaren Nähe von durch John Browns Überfall auf die Waffenkammer von 1859 bekannt gewordenem Harpers Ferry − ein Vorläufer des blutigen Bürgerkriegs.

Offensichtlich ist das Überleben ein markantes Merkmal des Greises, der nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern auch schreckliche Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs in japanischer Gefangenschaft erleben mußte. Dieser zweite Krieg hat ihn kalt erwischt, als er als gewöhnlicher Geschäftsmann auf den Philippinen arbeitete. Durch die japanische Eroberung gelangte Buckles ins Gefangenenlager Los Baños, wo er dreieinhalb Jahre leiden mußte. Obwohl er sehr geschwächt war, leitete er Gymnastikübungen für die anderen Gefangenen. Es war einzig der Wille zu überleben, was ihn noch am Leben hielt, sagte er viele Jahre später einem Journalisten der Washington Post.

Aus freien Stücken nahm er am Ersten Weltkrieg teil. Nach mehrmaligen Versuchen und voller Eifer überredete er endlich einen Musterungsoffizier, ihn trotz seines jungen Alters zu rekrutieren − er war erst sechzehn statt der geforderten achtzehn Jahre alt. Dies gelang ihm, wie er selber zugibt, durch die Täuschung über sein Alter. Er sei 21 Jahre alt, behauptete er, aber seine Geburtsurkunde liege in der Bibel im Elternhaus im Bundesstaat Missouri. Bei der Marineinfanterie wurde ihm gesagt, er solle „schnellstmöglich wieder nach Hause gehen, damit seine Mama nicht merke, daß er abgehauen“ sei. Das Heer jedoch übernahm ihn und schickte ihn nach Eu-ropa. Auf dem Königlichen Postschiff (RMS) „Carpathia“, dem einige Monate später von deutschen U-Booten versenkten Truppentransporter, konnte Buckles mit Crewmitgliedern sprechen, die wenige Jahre zuvor Überlebende der Titanic aus den eisigen Fluten des Nordatlantiks geborgen hatten.

In Europa angelangt, war der junge Doughboy − so genannt wegen der schnell staubig aussehenden Uniform der US-Army − im Jahre 1917 zuerst in England, dann in Frankreich als Krankenwagen- und Motorradfahrer für den First Fort Riley Casual Detachment tätig. Die Meldung für dieses Einsatzgebiet war laut seines Musterungsoffiziers die schnellste Möglichkeit, nach Übersee gesandt zu werden. Zum Glück für ihn, obwohl er es sich als einer von den „eingebildeten Amerikanern“ − seine eigene Bezeichnung für sich und seine Mitkämpfer − vielleicht anders gewünscht hätte, war er nie direkt an der Front. Zur Genüge sah er jedoch zerfetzte Leiber und Verwüstung, um in ihm den Wunsch zu wecken, dies sei der Krieg, der alle Kriege beenden solle. Von den fast fünf Millionen Amerikanern, die am Ersten Weltkrieg beteiligt waren, haben 166.516 Soldaten die USA nie wiedergesehen, ein Schicksal, das dem jungen Buckles erspart blieb. Nach dem Waffenstillstand in Frankreich im November 1918 beteiligte er sich an der Organisation der Rückkehr von deutschen Kriegsgefangenen in ihre Heimat. Er konnte zu dem Zeitpunkt nicht ahnen, daß ihn Jahre später selber das Schicksal eines Kriegsgefangenen treffen würde.

Wieder Zivilist, arbeitete er für die Schiffahrtsgesellschaft White Star Line. Als der Zweite Weltkrieg begann, verdiente er seinen Lebensunterhalt in deren Büro in der philippinischen Hauptstadt Manila. Trotz der Versicherung General MacArthurs, Manila sei die sicherste Stadt im Orient, mußte Buckles nach Kriegsbeginn im Dezember 1941 und der schnellen Eroberung der Philippinen durch die japanischen Truppen über drei Jahre auf die Wiederkunft des Generals in elenden Verhältnissen der Kriegsgefangenschaft warten. „Wir alle ähnelten Skeletten mit Haut“, sagte er.

Trotz der Tatsache, daß der Erste Weltkrieg mehr US-Amerikanern das Leben kostete als die beiden Kriege in Korea und Vietnam zusammen, gibt es bisher für diesen Krieg kein Denkmal auf der National Mall in Washington, an der der Gefallenen der anderen großen Kriege des 20. Jahrhunderts gedacht wird. Buckles wollte das ändern und nahm bis zuletzt zusammen mit „The World War I Memorial Foundation“ die 2,3 Millionen Dollar kostende Restauration des „D.C. War Memorial“ zum Nationaldenkmal in Angriff.

Die Fertigstellung des gerade produzierten Dokumentarfilms über sein Leben, der wegen Buckles hoher Achtung für General Pershing, den er persönlich kennenlernte und der ebenfalls aus Missouri stammte, den Titel „Pershing’s Last Patriot“ (pershingslastpatriot.com) trägt, erlebte der letzte Veteran nicht mehr. Obwohl Buckles weder die Medal of Honor noch das Purple Heart verliehen wurde und er auch nicht in einer Schlacht gefallen ist − Voraussetzungen, um auf dem zentralen US-Heldenfriedhof „Arlington National Cemetery“ in Washinton begraben zu werden − wird für den letzten US-amerikanischen Kriegsveteranen eine Ausnahme gemacht.

Sollte nach Buckles nun noch auch „der letzte Seemann“, der ohne deutschen Feindkontakt seit 1917 auf dem britischen Schlachtschiff HMS „Revenge“ dienende Claude Stanley Choules, sterben, wird immer noch eine allerletzte Militärangehörige des Ersten Weltkriegs geführt werden. Wie die britische Zeitung Lynn News im Januar 2010 urteilte, müßte auch Florence Green, geborene Patterson, als Veteranin (geboren am 19. Februar 1901) eingestuft werden. Immerhin trug die im September 1918 zur Luftwaffen-Unterstützungstruppe „Women’s Royal Air Force“ stoßende 17jährige Londonerin eine Uniform, wenn auch nur als Kellnerin in der Offiziersmesse in Marham/Norfolk.

 

Letzte Veteranen der Kriegsnationen

Deutschland Erich Kästner

* 10. März 1900

† 1. Januar 2008

 

Frankreich Lazare Ponticelli

* 7. Dezember 1897

† 12. März 2008

 

Großbritannien Harry Patch

* 17. Juni 1898

† 25. Juli 2009

 

Türkei Yakup Satar

* 11. März 1898

† 2. April 2008

 

Österreich-Ungarn Franz Künstler

* 24. Juli 1900

† 27. Mai 2008

Fotos: Buckles als blutjunger Kriegsfreiwilliger 1917: Er solle „schnellstmöglich wieder nach Hause zu Mama gehen“, Frank Buckles erhält 2007 eine Auszeichnung der Französischen Ehrenlegion: Bis zuletzt unermüdlich für das Gedenken an den Ersten Weltkrieg im Einsatz

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