© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/11 04. März 2011

Saatgutsklaven in der Gesundheitsfalle
Vorwiegend düstere Entwicklungsperspektiven für die ländlichen Räume in Deutschland und Europa
Udo Müller

Wenn es unsere Agrarregionen, wie bei den jüngsten Alarmmeldungen über Dioxin im Tierfutter, in die Schlagzeilen schaffen, verspüren die Leser wahrlich kein „Erwachen heiterer Empfindungen“ mehr, wie sie Beethovens „Pastorale“ im ersten Satz „bei der Ankunft auf dem Lande“ intoniert. Dabei scheinen solche „Umweltskandale“ seit kurzem sogar eher zu den zweitrangigen Problemen des ländlichen Raumes in Deutschland wie im übrigen Europa zu gehören.

Diesen Eindruck vermittelt zumindest das Themenheft „Ländliche Räume“ der Geographischen Rundschau (2/11), dessen Beiträge sich zu einem Kompendium der „Politischen Ökologie“ verdichten. Zwei dramatische Entwicklungsszenarien, beide von erheblicher Sprengkraft für die Gesamtgesellschaft, stehen derzeit im Mittelpunkt der Forschungsinteressen von Wissenschaftlern, die an Universitätsinstituten, am Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung im brandenburgischen Müncheberg und am Braunschweiger Johann Heinrich von Thünen-Institut über die Zukunft der „Menschen draußen im Lande“ arbeiten.

Zum einen, so Florian Dünckmann, Fachmann für Raumbezogene Konfliktforschung an der Uni Bayreuth, in seiner Studie über „Grüne Gentechnik“, zeichnen sich die ersten Umrisse dessen ab, was der damalige Verbraucherminister Horst Seehofer (CSU) 2006 als „Krieg in den Dörfern und auf den Feldern“ prophezeite. Einen Vorgeschmack darauf gab es im Sommer 2010, als Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) gemeinsam mit BASF-Chef Jürgen Hambrecht symbolisch die Ernte genveränderter „Amflora“-Kartoffeln auf einem Mecklenburger Versuchsfeld einbringen wollte. Damit die manipulierten Wunderknollen überhaupt gedeihen konnten, mußte der Acker bei Zepkow vier Monate lang rund um die Uhr polizeilich bewacht werden.

Trotzdem gelang es Aktivisten der Anti-Gentechnik-Bewegung, einen Teil der Anbaufläche zu zerstören. Nach dem Vorbild der „Friedensbewegung“ und ihrer „Atomwaffenfreien Zonen“ deklarieren sie erfolgreich „Gentechnikfreie Regionen“, die sich auch im westlichen Europa täglich ausdehnen. Die „Konfliktlinien“ verlaufen dabei „quer zu den (politischen) Polaritäten“ im ländlichen Raum. Unter den Gegnern der „Grünen Gentechnik“ sieht der Bayreuther Geograph Konservative und Linksalternative Schulter an Schulter kämpfen. Ebenso unübersichtlich ist der Frontverlauf unter den Landwirten selbst.

In agrarischen Intensivregionen wie dem Oderbruch oder dem bayerischen Rottal, wo man Mais in großen Monokulturen anbaut, werde eine genveränderte und somit schädlingsresistente Maissorte wie „Mon 810“ des US-Konzerns Monsanto geradezu herbeigesehnt, während etwa im von bäuerlichen Kleinbetrieben dominierten Oberfranken „alle Befragten deutlich mehr Risiken als Chancen in der Grünen Gentechnik“ sehen.

Zu den Risiken rechnen Anhänger wie Gegner „die“ Politik, die keinen klaren Kurs fahre. So sei die Mon-810-Anbaugenehmigung wieder kassiert worden. Derart schwankende Entscheider warten offenbar auf wasserdichte naturwissenschaftliche Aussagen über das gentechnische Gefahrenpotential. Zumal ihnen Brüssel die Verantwortung nicht abnehme. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit verlagere die sonst so zentralistische EU die Befugnisse in Sachen Gentechnik auf die Mitgliedsstaaten. Und die Bundesregierung denke jetzt darüber nach, dieses heiße Eisen an die Bundesländer durchzureichen.

Dabei gehe es um nichts weniger als um die Weichenstellung, „nach welchem Modell zukünftig die Landwirtschaft in Deutschland und Mitteleuropa organisiert sein wird“. Nach der Logik der bäuerlichen Landwirtschaft kleiner Betriebseinheiten oder nach der den Bauern zum „Saatgutsklaven“ degradierenden „agro-industriellen Produktionslogik“, für die die neuen Biotechnologien maßgeschneidert würden.

Ziehen mit der Gentechnik am Horizont erst dunkle Wolken auf, prägt die lange prognostizierte zweite große Bedrohung des vermeintlichen Land­idylls bereits regionale Realitäten: Der demographische Wandel hat Kleinstädte und Dörfer nicht nur in den neuen Bundesländern fest im Griff (JF 6/11). Das Problem von Bevölkerungsrückgang, schneller Alterung, Abwanderung, kleineren Schulen, fehlenden Ärzten, ausgedünnter Infrastruktur, schlechterer Daseinsvorsorge, Schrumpfung von öffentlichen Angeboten (Energie, Wasser oder Bildung) – es zeige sich, so die Soziologin Claudia Neu (Hochschule Niederrhein), nun unverstellt auch in Südniedersachsen oder in der Eifel.

Vor allem die mangelhafter werdende Gesundheitsversorgung diagnostizieren die beiden Geographen Ulrike Grabski-Kieron und Thomas Stinn (Uni Münster) als untrüglichen Indikator des Niedergangs. Bundesweit befänden sich viele ländliche Räume schon in einer veritablen „Gesundheitsfalle“. Diese durch „Reformen“ verstärkten Tendenzen unterhöhlten ein staatstragendes Prinzip unseres Gemeinwesens. Denn der „geheime Lehrplan“ jeder Infrastrukturpolitik seit 1949, so Neu, lasse sich im Artikel 74 des Grundgesetzes nachlesen, der die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ gebiete. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sei dies nicht nur ein Grundpfeiler sorgender Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern Voraussetzung für gelingende territoriale und soziale Integration. Um für „Verteilungsgerechtigkeit auf der Basis des Grundgesetzes“ zu sorgen, tue ein rasches Umdenken not.

Ob eine politische Klasse, die jahrzehntelang demographische und familienpolitische Notwendigkeiten ignorierte und stattdessen alles Heil von „Europa & Einwanderung“ erwartete, dazu in der Lage sein wird, ist eine Frage, die freilich nicht in die Kompetenz von Wissenschaftlern fällt, die sich den Miseren ländlicher Räume widmen.

 

Grüne Gentechnik

Unter dem Schlagwort Gentechnik werden verschiedene Verfahren und Methoden der Biotechnologie zusammengefaßt, die auf gezielten Eingriffen in das Erbgut beruhen. Die „Rote Gentechnik“ setzt dabei auf Erbgutveränderungen bei Menschen und Wirbeltieren bzw. deren Zellen. Anwendungsbereiche sind die Medizin und Pharmazeutik (JF 48/10). Die „Weiße Gentechnik“ umfaßt die Anwendung bei Industrieprozessen. Die „Grüne Gentechnik“ setzt auf gentechnische Verfahren bei der Nutzpflanzenzüchtung. Anders als bei der langwierigen traditionellen Züchtung werden hierbei einzelne Gene gezielt manipuliert oder kombiniert. Dadurch sollen beispielsweise bestimmte Eigenschaften verstärkt (Geschmack, Stärkegehalt, Haltbarkeit) oder völlig neue (Resistenz gegen Schädlinge oder Krankheiten) erzeugt werden. Da die Langzeit- und Nebenwirkungen der Agrogentechnik bislang völlig unübersehbar sind, gibt es in vielen Ländern Widerstand gegen die „Grüne Gentechnik“. Bedingt durch den Pollenflug birgt der Anbau transgener Nutzpflanzen auch Risiken für den taditionellen und Ökolandbau.

Foto: Gegner der Grünen Gentechnik protestieren in Mecklenburg: Wenig naturwissenschaftliche Aussagen über das Gefahrenpotential

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