© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Glück und Strafe
Von Liebes- und Naturkatastrophen: Kleists Novelle „Das Erdbebeben in Chili“ im Dresdner Staatsschauspiel
Uwe Ullrich

Purpurne Blätter fallen vom Bühnenhimmel. Das Publikum applaudiert freundlich und ein wenig irritiert. Anläßlich des 200. Jahrestages des Freitodes des Schriftstellers Heinrich von Kleist gelangte dessen Novelle „Das Erdbeben in Chili“ am Dresdner Staatsschauspiel in Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin (Premiere dort am 6. November 2011) zur Aufführung. Armin Petras, Intendant des Berliner Hauses, Experte in Fragen Kleist und Übertragungen von Prosatexten für die Bühne, führte Regie. Das Ensemble, trotz einiger gut überspielter Abstimmungsschwierigkeiten mit vorzüglichen darstellerischen Leistungen, bilden Annika Schilling, Wolfgang Michalek, Christian Friedel (Dresden) sowie Anne Müller und Matti Krause (Berlin).

Heinrich von Kleists Novelle handelt zu Beginn der Neuzeit im südamerikanischen Santiago de Chile. Mehrere Grundkonflikte sind im Text Kleists angelegt, welche die Dramaturgen Martin Heckmann und Nina Rühmeier bühnenreif umzusetzen haben. Ein handwerkliches Problem besteht darin, die statische Darstellung des erzählenden Stoffes so zu entwerfen, daß der Textfluß die Handlung vorantreibt, Spannungsbögen erzeugt und dem Bühnenverlauf zu einer gewissen offensichtlichen Dynamik verhelfen muß.

Erzählerisch eröffnet sich der Handlungsrahmen: Die nicht standesgemäße Liebe zwischen dem Hauslehrer Jeronimo Rugera und seiner Schülerin Donna Josephe. Der Entdeckung folgen die Entlassung des jungen Mannes und die Verbannung der Tochter aus gutem Hause in ein Frauenkloster. Dort treffen sie sich heimlich. Die Folge: Schwangerschaft, nach deren Offensichtlichkeit beide wegen Schändung des Klosters angeklagt, sie zum Tode und er zu einer Haftstrafe verurteilt werden.

In der Stunde der Hinrichtung, während der er sich selbst töten will, erschüttert ein Erdbeben – einfallsreich stürzt alles, dynamisch vorgetragen in fulminanter Choreographie als Styropornaturkatastrophe, zusammen – die Stadt. Beide entkommen. 

Auf der Flucht treffen sie sich wieder und sind glücklich vereint mit ihrem gemeinsamen Sohn. In der Gemeinschaft der Überlebenden ebnet Hilfsbereitschaft Standesunterschiede ein.

Überzeugend wird die Naturkatastrophe als kollektive Erfahrung dargestellt und paradiesisch interpretiert. Komplementär zeugen Videoeinblendungen, welche die Schauspieler individuell erläutern, von persönlichen Glücksgefühlen.

Kurzfristig war die Vergangenheit aufgehoben. Nun gilt es sich wieder dem gesellschaftlichen Leben anzuschließen. Der Rettung aus den Zerstörungen der Stadt und dem Überleben gehört gebührender Dank. Geistliche rufen zum Gottesdienst in die einzige Kirche, die das Erdbeben überstand. Der Lobpreisung folgt in der Predigt der Hinweis auf den Sittenverfall, welcher die Naturgewalten herausforderte. Plötzlich fanatisiert sich die Menge. Die Liebenden sind jetzt erkannt und trotz mutiger Hilfe kommen sie zu Tode. Der helfende, sie verteidigende Adlige verliert im Kampf den eigenen Säugling. Zu seiner wegen Verletzung zurückgebliebenen Frau bringt er den Sohn der beiden Getöteten. Sie nehmen das fremde Kind als eignes an. Das Ende – ein Zeugnis wahrer menschlicher Größe.

Eigenwillig interpretieren Regie und Dramaturgie die Verhältnisse zwischen individuellem Glück und moralbedingter Strafe, dem Zwischenspiel Paradies und Gesellschaft sowie den Zufall des Aufeinandertreffens und kollektive Vernichtung – nachdenkens- und sehenswert.

Die nächsten Vorstellungen von „Das Erdbeben in Chili“ im Kleinen Haus – Staatsschauspiel Dresden, Glacisstraße 28, finden statt am 29. März und 14. April, jeweils um 19.30 Uhr. Kartentelefon: 03 51 / 49 13-555

 www.staatsschauspiel-dresden.de

Foto: Darsteller Anne Müller, Wolfgang Michalek, Annika Schilling: Gut überspielte Abstimmungsschwierigkeiten

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen