© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/11 11. März 2011

Die „neuen Deutschen“ geben sich kämpferisch
Musterintegrierte entdecken ihre muslimische Identität: Ein „Manifest der Vielen“ versteht sich als Antwort auf Thilo Sarrazin
Michael Kreuzberg

Manifest der Vielen“ betitelt sich eine von der deutsch-türkischen Doppelpaßbesitzerin Hilal Sezgin herausgebene Aufsatzsammlung, die sich als ultimatives „Gegengift“ zu Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ versteht. Darin versammelt sind die Stars der schreibenden muslimischen Migrantenszene wie etwa Hatice Akyün, Feridun Zaimoglu, Lamya Kaddor und Aylin Selcuk. Auf der sachlichen Ebene ist das Buch weitgehend wertlos –die meisten Autoren kennen Sarrazins Thesen offenbar in erster Linie aus den Schlagzeilen der Zeitungen. Die haben allerdings gereicht, um die Gitter hochfahren zu lassen. So geriet das „Manifest“ vor allem zum aufschlußreichen Panorama einer sich unter den Migranten ausbreitenden Gefühlslage, deren politische Brisanz nicht zu unterschätzen ist.

Am aggressivsten gebärdet sich dabei der 1964 in der Türkei geborene Schriftsteller Zaimoglu („Kanak Sprak“), der im Namen des „Humanismus“ zu einem „Kulturkampf“ gegen die „Provokateure“ und die „rechtskonservativen Krakeeler“ aufruft, überhaupt gegen alle, die viel vom „Volk“ reden. Der Orientalist Navid Kermani wertet die Schweizer „Volksabstimmung zum Verbot von Minaretten“ als „Angriff auf Europa“, das heißt als „Bruch mit zentralen Prinzipien dieses europäischen Projekts als einer säkularen, transnationalen, multireligiösen und multiethnischen Willensgemeinschaft.“

Ähnlich argumentiert die iranischstämmige, im „Dekonstruktions“-Genre tätige Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, die sich in der Sarrazin-Debatte mit manipulierten Zahlenangaben blamiert hat. Ihr von der Humboldt-Universität unterstütztes, pseudowissenschaftliches Kulturkampfprojekt namens „Heymat“ hat es sich explizit zum Ziel gesetzt, die „Etabliertenvorrechte“ der „alteingesessenen Deutschen“ gegenüber den sogenannten „postmodernen neuen Deutschen“ in Frage zu stellen. Nachdem sie die Existenz eines „homogenen“ deutschen Volkes und den Begriff des „Muslim“ und „Fremden“ fleißig „dekonstruiert“ hat, mündet ihr Aufsatz in eine trotzige Positionierung: „Trotz, Wut, Fassungslosigkeit und eine klare Erkenntnis – wir gehen nicht weg von hier. Das hier ist auch unsere Heimat.“ Ein Satz, den man ihr gerne als Retourkutsche zurückgeben möchte.

Ähnlich autistisch tritt Ali Kizilkaya auf, Vorsitzender des „Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland“ und ehemaliger Milli-Görüs-Mitarbeiter. „Man muß neugierig sein, damit das Fremde eine Chance bekommt“, schreibt er, und meint mit dem „Fremden“ bequemerweise vor allem sich selbst und seine eigene Interessengruppe. Auch er fordert „Partizipation“ und „Gleichberechtigung“ bei gleichzeitiger Zurückweisung von Anpassungsleistungen.

Dieser Punkt ist wohl überhaupt der entscheidende gemeinsame Nenner der Beiträger. Das Wörtchen „Viele“ im Titel und die liberale Beschwörung des Individualismus gegen Sarrazins angeblich verquere Pauschalisierungen sind dabei irreführend, denn es handelt sich bei den Autoren ganz offensichtlich um eine Gruppe, an der eher ins Auge springt, was sie miteinander verbindet, als was sie trennt. Das betrifft sowohl ihre Herkunft als auch ihre politischen Forderungen.

Dieser Eindruck bestätigte sich auch bei der Präsentation des Buches im Berliner Maxim-Gorki-Theater am 24. Februar. Hier inszenierte sich die muslimisch-orientalische, türkisch dominierte „Community“ (so die von dem Moderator verwendete Eigenbezeichnung) als Gegenstück zu einer bösen, nicht weiter benannten „Mehrheitsgesellschaft“ aus Islamophoben und Rassisten, deren Leitstern Sarrazin als abstruse Lachnummer hingestellt wurde. „Wir rücken zusammen“, verkündet Herausgeberin Sezgin, und dies angeblich nur infolge der Polarisierung durch die Sarrazin-Debatte, die eine „Muslimifizierung“ von „Menschen“ in Gang gesetzt hätte.

Dieses Märchen wurde natürlich prompt von der selbsttäuschungswilligen Presse geschluckt. So kommentierte der Berliner Tagesspiegel: „Das ‘Wir’ tröstet und ist doch fiktiv, außerdem ein Skandal, weil von außen erzwungen.“ Eher müßte davon die Rede sein, daß sich die bisher politisch korrekt vertuschten, handfesten Differenzen zwischen der Stammbevölkerung und den Paß-„Deutschen“ immer deutlicher herausschälen.

Bezeichnend für diese Tendenz ist, daß nun gerade viele säkulare Musterintegrierte ihre „muslimische“ Identität entdecken und dabei die eigene Volks- und Kulturgruppe durchaus pauschal in Schutz nehmen, während Leute wie Necla Kelek zunehmend mit jener Verachtung bedacht werden, die man sonst nur für Überläufer und Kollaborateure reserviert. Einige sind wie der Publizist Ekrem Senol zu offenen Aufrufen übergegangen, „der Integrationsforderung selbstbewußt die kalte Schulter zu zeigen,“ da diese „eine Phrase ohne tieferen Sinn“ sei. Dies ist wohl die verdiente Quittung für eine halbherzige Kuschelintegrationspolitik, die sich keinen konkreten Inhalt zu geben wagte.

Als strahlende Anti-Sarrazin-Ikone des Abends wurde Naika Foroutan präsentiert, deren angeblich emotionslose, faktisch-empirische Nüchternheit verdächtig häufig betont wurde. Nachdem sie erklärte, daß die rapide Ausbreitung des Islams und die Integrationsprobleme gemäß ihren Statistiken reine Hirngespinste wären, fragte der Moderator, warum denn das „Bauchgefühl“ so vieler Deutscher das Gegenteil sage. Foroutan wich wortreich einer Antwort aus, was aber offenbar niemandem auffiel und den meisten ohnehin egal war.

Der Abend klang mit einem vom Publikum enthusiastisch beklatschten Satz aus dem „Manifest“ aus: „Sarrazin kommt und geht. Wir bleiben.“

Hilal Sezgin (Hg.): Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu. Blumenbar Verlag, Berlin 2011, broschiert, 232 Seiten, 12,90 Euro

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