© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Pankraz,
Lech Walesa und das Fasten im Internet

Nicht unvergnügt liest Pankraz, daß dreißig Prozent der Deutschen laut einer Umfrage in der jetzt angebrochenen vorösterlichen Fastenzeit nicht nur weitgehend auf Alkohol, Tabak und Schokolade verzichten wollen, sondern auch „auf das Internet“. Im katholisch geprägten Polen sollen es sogar noch beträchtlich mehr sein, besonders unter der Jugend. Nach dem großen Fressen nun also das große Fasten im Internet.

Aber geht das denn überhaupt? Das Internet ist doch längst zu einem unumgänglichen Industriefaktor in allen einigermaßen entwickelten Ländern geworden! Es regelt bürokratische Abläufe, inspiriert wirtschaftliche Entscheidungen von großer Tragweite, greift tief in die Logistik von Verkehr, Transport und Handel ein. Auch aus dem Geistesleben ist es nicht mehr wegzudenken, erleichtert unzählige Recherchen, hält Presse und sonstige Informationsquellen in Schwung. Was heißt denn da Fasten?

Nun, die Fastenwilligen fühlen sich offenbar vorrangig nicht als bloße Nutzer („user“) des Netzes, sondern verstehen sich eher als dessen Besucher („visitors“), durchaus in dem Sinne, in dem man etwa ein Freudenhaus „besucht“. Das Internet gilt bei den potentiellen Fastern immer noch als eine Art Zaubergarten, mit verführerischen Früchten darin, von denen man nur maßvoll und gegebenenfalls gar nicht kosten soll.

Übrigens kennt die Branche außer Benutzern und Besuchern noch eine dritte Kategorie, die sogenannten Einwohner („inhabitants“), womit beileibe nicht die begrenzte Zahl der technischen Fachleute gemeint ist, welche den Laden am Laufen halten und für eventuelle Reparaturen zur Verfügung stehen, sondern eine ganz besondere Gattung Mensch, gleichsam eine Truppe nietzscheanischer „Übermenschen“, die sich auch für solche halten und das die „bloßen“ Nutzer bzw. Besucher bei jeder Gelegenheit spüren lassen.

Besonders auf die biederen, vorsichtig genießen wollenden Nur-Besucher schauen die „Netz-Einwohner“, wie sie sich selber stolz nennen, voller Verachtung. Viele von ihnen fühlen sich allen Ernstes schon als die neuen Herren der Erde. Sie allein wissen angeblich, was passieren wird und was man tun muß. Nicht zuletzt bilden sie sich ein, via Twitter und Face-book jederzeit an jedem Ort der Welt beliebig Demonstrationen und Revolutionen entfachen und so jede reale, also nicht virtuelle, Regierung stürzen zu können.

Die neu-elitäre Verachtung der inhabitants gegenüber den visitors hindert sie nicht daran, aus deren Reihen dauernd neue Kunden, „Freunde“, Bodenpersonal zu rekrutieren, ihnen neue Spielwiesen zu eröffnen, schier unendliche Möglichkeiten, sich zu verlinken, sich gewissermaßen von einer virtuellen Zigarette zur nächsten, also von einem „link“ zum nächsten zu hangeln, Zeit totzuschlagen, sich im Internet regelrecht zu verlieren und so als ernstzunehmender Bürger und Polis-Teilnehmer auszufallen.

Es sind keineswegs nur Jugendliche, die den Verführungen und Linkereien der inhabitants verfallen und nur noch mit Handy und iPhone herumspielen. Der Altersdurchschnitt der visitors scheint sich vielmehr dem Altersdurchschnitt eines modernen mitteleuropäischen Landes rasant anzunähern, so daß sich auch hier die Alterspyramide bald auf den Kopf gestellt haben dürfte. Und es sind allem Anschein nach nicht die Dümmsten, die sich in die Besucherschar einreihen.

Kürzlich fragte Pankraz einen polnischen Journalistenkollegen aus alten Solidarność-Tagen, wie es denn Lech Walesa gehe, dem legendären Gewerkschaftsführer von damals und Ex-Staatspräsidenten, was der den Tag über treibe, ob der vielleicht ein Buch schreibe oder in seinem Garten Rosen züchte. Der Kollege zögerte etwas und antwortete dann traurig: „Ach, der sitzt den ganzen Tag am Computer und verlinkt sich mit allem Möglichen. Der ist für Familie und Freunde, für Garten und Haustiere verloren.“

Ob Lech Walesa jetzt zu den vielen gehört, die sich für die kommenden Fastenwochen vorgenommen haben, Computer-Enthaltsamkeit zu üben und das Surfen im Netz für eine Weile einzustellen? Schön wäre es, Pankraz würde ihm am liebsten nachfolgen, obwohl er sich auch bei ernsthaftester Selbstprüfung nicht für einen visitor hält, sondern nur für einen eifrigen user.

Aber was hindert ihn eigentlich daran, im Falle einer notwendigen Informationsgewinnung wie in alten Zeiten die paar Schritte hinüber zur Bibliothek zu absolvieren und das Stichwort im Brockhaus nachzuschlagen? Stattdessen hat er sich angewöhnt, vor dem Computer sitzen zu bleiben, mit einem einzigen Mausklick den Bildschirm zu teilen, auf der freigewordenen Hälfte das betreffende Stichwort bei Wikipedia einzugeben und es einfach in den Text auf der anderen Hälfte hinüberzuschieben. Das ist bequem und spart Zeit, doch nach Fasten sieht es nicht gerade aus.

Gute Nachricht vor einigen Tagen immerhin, wenigstens für die user in den großen Firmen: Die auf der letzten Cebit in Hannover so eifrig hin und her gewendete neuartige „Wolkentechnik“ („Cloud computing“) scheint den Nutzern gegenüber den arroganten Einwohnern und den ihnen ausgelieferten Besuchern endlich einmal realen Vorteil in Aussicht zu stellen. Vielleicht regelt sich das große Computer-Fasten bald im technischen Selbstlauf.

Die Sache läuft ja offenbar darauf hinaus, daß man den Computer alten Stils mit seinen Links und seinen vielen zum Spielen (sprich: zum blinden Fressen) einladenden Umwegen gar nicht mehr nötig hat. Alle Informationen, die man wirklich braucht, liegen in einer riesigen Info-Wolke bereit und lassen sich mit größter Lässigkeit in Fahrt bringen und abrufen. Man muß freilich dafür bezahlen und wird sich zweimal überlegen, ob man für bloßes Linksfressen und Zeittotschlagen extra zahlen will.

Daß die Wolke „zuviel von uns selbst erfährt“, wie viele fürchten – diese Gefahr schreckt Pankraz wenig. Lieber Wolken wissen etwas als herrschaftsgeile inhabitants.

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