© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Abstimmung der Willkür
Vor neunzig Jahren stimmten die Oberschlesier über ihre staatliche Zukunft ab / Die Alliierten ignorierten das Plebiszit und teilten die Region
Stefan Scheil

Es ist gelegentlich gesagt worden, der nach dem Ersten Weltkrieg 1919 unterschriebene Versailler Friedensvertrag sei für Deutschland so schlecht gar nicht gewesen. Immerhin erhielt er die Einheit und weitgehend auch die Größe des Staates, während Deutschlands Hauptverbündeten wie dem Osmanischen Reich und Österreich-Ungarn von den siegreichen Entente-Mächten gleich komplett die weitere staatliche Existenz verwehrt worden war. Dieser positive Aspekt wurde jedoch von einem aus deutscher Perspektive entscheidenden Fehler von Versailles verdeckt: Er war ganz und gar kein Abschluß des Krieges. Das wurde in den Nachkriegsjahren an vielen Orten deutlich, besonders aber in Oberschlesien.

Hier wie anderswo waren die polnischen Ausbreitungsphantasien, die sich laut einem Stoßseufzer des italienischen Außenministers Naron Sonnino während der Versailler Verhandlungen auf „halb Europa“ erstreckten, auf alliierte Skepsis gestoßen. Ausgenommen von dem Streit war das Hultschiner Ländchen, der Südteil des oberschlesischen Landkreises Ratibor, der noch im Dezember 1918 von tschechischen Freischärlern militärisch besetzt worden war und dann im September 1919 im Vertrag von St. Germain der Tschechoslowakei ohne Abstimmung zugesprochen wurde. Zum hellen Entsetzen der in Versailles anwesenden polnischen Delegation ordnete man schließlich in Oberschlesien ebenso wie in Ostpreußen klärende Volksabstimmungen an.

Das polnische Entsetzen hatte nachvollziehbare Gründe. Eine freie Abstimmung über die deutsch-polnische Grenzziehung wäre für Polen allenfalls auf dem flachen Posener Land zu gewinnen gewesen, wo gar keine stattfinden sollte, sicher nicht in Westpreußen – wo auch keine stattfinden sollte –, auf keinen Fall aber im preußischen Nordosten und auch nicht in Oberschlesien. Niemand wußte das besser als die Fanatiker um Wojciech Korfanty, der die polnischen Geschäfte vor Ort besorgte. Zwar war es Korfanty gelungen, zwischen 1903 und 1912 den Kattowitzer Reichstagswahlkreis für sich zu gewinnen, aber dies blieb die exotische Ausnahme. In Oberschlesien wählte allenfalls eine Minderheit polnisch, daran änderte auch die stete Agitation der Polenpartei nichts, die Korfanty im liberalen Kaiserreich als Mitglied des Herrenhauses und des Reichstags weitgehend ungestört betreiben konnte.

Die fehlende Resonanz brachte weder Korfanty noch andere polnische Politiker von der Überzeugung ab, es östlich von Oder und Neiße vielfach mit germanisierten Slawen zu tun zu haben, die man vor oder nach Austreibung ihrer deutsch-germanischen Oberschicht nur über ihr bisheriges trauriges Schicksal aufzuklären bräuchte, um sie für den polnischen Patriotismus zu vereinnahmen. Davon unberührt weckte das oberschlesisische Industrierevier natürlich auch wirtschaftliche Begehrlichkeiten. Gerade für den weitgehend agrarisch geprägten neuen polnischen Staat war die Aussicht auf das hochentwickelte, bis dahin nach dem Ruhrgebiet zweitgrößten Wirtschaftsraum des Deutschen Reiches von überaus hoher Bedeutung.

Es durften aus ihrer Sicht angesichts der absehbaren Wahlniederlage also andere Wege als Mittel zum Zweck herhalten. Im Fall Ostpreußen brachte selbst die weltrekordverdächtige Abstimmungsniederlage von 97,5 zu 2,5 Prozent die polnische Regierung nicht davon ab, gegen das international überwachte Abstimmungsergebnis einen Protest wegen der angeblich schlecht formulierten Wahlzettel einzulegen. Hätte dort anderes gestanden, hätte nach ihrer Deutung die Mehrheit für Polen gestimmt. In Oberschlesien würde die Niederlage zwar ebenfalls deutlich, aber nicht so extrem ausfallen. Daher half hier vielleicht der Griff zur blanken Waffe, zumal sich diese Waffe teilweise auf das strategische Interesse innerhalb der Alliierten stützen konnte. Das hatte zwar nicht für einen sofortigen Teilungsbeschluß für Oberschlesien ausgereicht und war in England oder Italien wenig ausgeprägt, aber in Frankreich sehr wohl. 

Korfanty organisierte also bewaffnete Aufstände, die bereits in den Jahren 1919 und 1920 in Oberschlesien Tatsachen schaffen sollten. Reguläre deutsche Truppen durfte es nach „Versailles“ dort nicht mehr geben, auch deutsche Beamte hatten die Region verlassen müssen. Ein Schutz der deutschen Bevölkerung war deshalb kaum noch möglich, und die französische Besatzung zeigte sich außerdem nicht abgeneigt, geschaffene Tatsachen als solche bestehen zu lassen. Korfantys Aufständische konnten unter diesen Bedingungen Erfolge erzielen, waren aber auf Warschauer Unterstützung angewiesen, da sich selbst der polnisch reklamierte Teil der Anwohner von ihrem Auftreten nicht immer begeistert zeigte. Zudem traten deutsche Freikorps auf den Plan, die das Gröbste verhinderten und die Besatzungsmacht daran erinnerten, daß vor der Abstimmung wenigstens der schöne Schein gewahrt werden mußte.

Die Sieger hatten sich im Versailler Vertrag die letzten Grenzregelungen allerdings vorbehalten, ohne sich an den Ausgang von Volksabstimmungen wirklich zu binden. Der Blankoscheckcharakter des Vertrages zeigte sich nicht nur in seinen finanziellen Bestimmungen über deutsche Reparationen, deren Höhe erst später bekanntwerden sollte, sondern ebenso in territorialen Fragen. Oberschlesien gehörte dazu. Obwohl die Volksabstimmung dort am 20. März 1921 (707.045 Oberschlesier, das heißt 59,4 Prozent, stimmten für Deutschland und 479.232 oder 40,6 Prozent für Polen) eindeutig ausfiel, wurde die Region dennoch vom Obersten Rat der Alliierten nach einer Empfehlung des Völkerbunds aufgrund des Beschlusses vom 20. Oktober 1921 geteilt, das ostoberschlesische Industrierevier entgegen dem Wunsch der Bevölkerung an Polen übertragen. Das ist insofern bemerkenswert, weil damit der gewaltsame Aufmarsch der Freischärler Korfantys nach dem 3. Mai 1921 (Dritter Oberschlesischer Aufstand), der nur nach Kämpfen am St. Annaberg vom aus deutschen Freikorps gebildeten Selbstschutz Oberschlesien (SSOS) zurückgeworfen werden konnte, nicht sanktioniert, sondern noch belohnt wurde.

Beim Deutschen Reich verblieb der zwar flächenmäßig größere, jedoch rein agrarisch strukturierte Teil des Abstimmungsgebiets. Damit fielen etwa achtzig Prozent des oberschlesischen Kohlevorkommens, sechzig Prozent der Hochöfen, neun von zwölf Stahlwerken sowie alle Zink-, Blei- und Silberhütten an Polen, was insbesondere wegen der oft montanen Reparationslasten eine exorbitant hohe Bedeutung hatte.

Die Teilung empörte viele Oberschlesier auch deshalb, weil das Votum so eindeutig für Deutschland ausfiel, trotz der massiven Parteinahme der Alliierten für die Polen. Nicht nur daß drei westliche, rein deutsch besiedelte Kreise Oberschlesiens (Neisse, Grottkau und Falkenberg) laut Versailles gar nicht erst zum Abstimmungsgebiet erklärt wurden; auch ein Wahlkampf war unter der Leitung des französischen Oberkommissars Henri Le Rond in weiten Teilen nur den polnischen Kräften überhaupt ermöglicht worden, Schikanen gegen Deutsche wurden ostentativ geduldet. Korfanty nutzte für seine umfangreiche Wahlwerbung jede Gelegenheit, mit großzügigsten Zusagen persönlicher Vorteile (die „Korfanty-Kuh“ war das verbreitetste Versprechen) Unentschiedene zur Stimme für Polen zu gewinnen. Diese und ungezählte andere Willküraktionen der früheren Kriegsgegner sorgten dafür, daß sich die innerdeutsche Freude darüber in buchstäblich engen Grenzen halten mußte.

Foto: Freiwillige des Selbstschutzes Oberschlesien, Solidaritätskundgebung in Kassel, polnischer Pfarrer segnet in Myslowitz Panzerzug, Abstimmungsmarke, polnische Korfanty-Soldaten posieren vor Panzerwagen (v.o.n.u.): Auf die normative Kraft des Faktischen gesetzt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen