© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Freie Fahrt ins Traumreich der Humangenetik
Ein Jahr Gendiagnostikgesetz: Deutsche Juristen ziehen eine kritische staatsrechtliche Bilanz
Bernd Zimmermann

Die Kräfteverhältnisse sind zwar schwer einzuschätzen. Aber es käme einem „geistig-moralischen“ Wunder gleich, wenn sich in den liberalen westlichen Gesellschaften „der Markt“ nicht auch und gerade dort etablieren sollte, wo seit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms Reichtümer locken wie einst auf kalifornischen Goldfeldern. Die Signale für die freie Fahrt in die „biopolitische Verbrauchergesellschaft“ scheinen jedenfalls auf Grün zu stehen.

Was das bedeuten könnte, führt der Münchner Staatsrechtler Jens Kersten in der Juristen-Zeitung (4/11) aus. Kersten zählt in seiner Disziplin zu den frühesten Kritikern genetischer Utopien. Von ihm stammt das maßgebende Werk zu den rechtlichen und sozialen Konsequenzen der Reproduktionsmedizin. Der Wälzer, eine verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Auseinandersetzung mit dem „Klonen von Menschen“ (Tübingen 2004), ist ein Plädoyer für die gesetzliche Beschränkung des medizinisch Machbaren, die in strenge Regelungsvorschläge für ein Verbot des Klonens mündet. Doch seit 2004 hat sich die Bioethiklandschaft keineswegs nach den Vorstellungen eines deutschen Privatdozenten normativ einhegen lassen. Dabei mutet das Gesetz über die genetische Untersuchung bei Menschen (Gendiagnostikgesetz/GenDG), das im Februar 2010 in Kraft trat, zunächst an, als habe das Bundeskabinett sich von Kersten beeinflussen lassen.

Das GenDG verbietet genetische Untersuchungen und jede Diskriminierung aufgrund genetischer Dispositionen im Arbeitsleben. Es versperrt damit einer Kommerzialisierung genetischer Daten aber nur ein Tor, um an anderer Stelle eins zu öffnen. Im Sinne des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit gestattet es dem Arbeitnehmer nämlich, sich präventiv genetisch testen zu lassen, um schwerwiegende arbeitsplatzbezogene Krankheiten zu erkennen. Dem Arbeitgeber darf er das Ergebnis zwar nicht verraten. Aber ungeachtet dieser Klausel ist für Kersten nicht zu übersehen, wie das durch immer billigere Testverfahren ermöglichte Versprechen „genetischer Optimierung“ die Arbeitswelt revolutionieren dürfte.

Gegenwärtig entwickle sich in den USA ein freier Markt für Gentestverfahren, die spezielle Krankheitsdispositionen diagnostizieren. Je normaler im propagierten Consumer-Driven Genomic Age mit solchen Informationen umgegangen werde, um so selbstverständlicher schlage die freiwillige Prävention um zur genetisch optimierten Leistungserbringung im Arbeitsleben.

Auch bezüglich der Kinderwunschbehandlung erweise sich das GenDG als zweischneidig. Prima vista scheinen der pränatalen Diagnostik enge Grenzen gezogen, was sich bei der Verzahnung zwischen der Untersuchung embryonaler Konstitution und der Entscheidung für einen künstlichen Abort zur Hürde für einen Schwangerschaftsabbruch aufbauen könnte. Denn Paragraph 15 Absatz 1 GenDG erlaubt nur eine Gendiagnose des Embryos zu medizinischen Zwecken. Also nur, um Gesundheitsrisiken während der Schwangerschaft und nach der Geburt zu ermitteln.

Doch was „Gesundheit“ ist, legt nach Paragraph 23 GenDG eine Kommission aus Medizinern, Juristen, Ethikern, Patienten- und Behindertenvertretern fest, denen als „ständige Gäste“ noch Delegierte der Bundesärztekammer sekundieren. Die Übertragung der Definitionskompetenz an ein solches Gremium hält Kersten für verfassungswidrig. Könne doch das Bundesgesundheitsministerium die Auswahl der Mitglieder im Dreijahresturnus steuern.

Dem Lobbyismus der mächtigsten biopolitischen Akteure, zu denen Lebensschützer gewiß nicht gehören, werde hier ein Stück „Bio-Governance“ überantwortet, an die man den Maßstab von Unabhängigkeit und Neutralität nicht anlegen sollte. Leicht ist zu prognostizieren, daß die Kommission „Gesundheit“ großzügig definieren werde, um die diagnostischen Anwendungschancen ins Uferlose zu erweitern. So bliebe, um einer schwangerschafts- abbruchrelevanten Ausdehnung der pränatalen Diagnostik entgegenzutreten, allein noch Paragraph 15 Absatz 2 GenDG. Der verbietet vorgeburtliche genetische Analysen, um Dispositionen für „spätmanifestierende Erbkrankheiten“ festzustellen, die erst nach der Volljährigkeit ausbrechen.

Wie sich jedoch auch hier Dammbrüche ankündigen, zeige das Paragraph 15 II GenDG umschiffende Urteil, das der Bundesgerichtshof (BGH) im Juli 2010 zur Präimplantationsdiagnostik (PID) fällte. Frauen dürfen seitdem in künstlicher Befruchtung erzeugte Embryonen straffrei eingepflanzt werden, die zuvor negativ auf genetische Krankheitsdispositionen untersucht worden sind. Embryonen mit positivem Befund müssen demnach nicht weiter „kultiviert“ werden und sterben ab.

Damit ist der Embryonenselektion eine breite Gasse geschlagen. Der BGH trifft sich hier mit angelsächsischen Aposteln der Heilsbotschaft von unablässig möglicher „Selbstverbesserung“, die unter der Parole „Let parents decide“ auch der Bundesregierung eine „bioethische Exitstrategie“ anböte. Lasse man wirklich allein die Eltern entscheiden, betrete man das Traumreich des biogenetischen Konsumismus. Denn wie wolle man Eltern daran hindern, ihre Nachwuchswünsche auf nichtpathologische genetische Dispositionen zu erweitern?

Die PID-Dienstleister hätten dafür auch bald die passende „Haar-, Haut- und Augenfarbe“ im Sortiment. Ob Jens Kersten glaubt, die hier aufgezeigte Weichenstellung sei politisch noch zu revidieren, mag aufgrund des rührend idealistischen Appells, der seine Bestandsaufnahme beschließt, bezweifelt werden: Eine liberale Gesellschaft zeichne sich nicht dadurch aus, daß sie biopolitisch alles erlaube, „sondern daß sie als pluralistische Gesellschaft mit bioethischen Widersprüchen leben kann“.

 

Präimplantationsdiagnostik (PID)

Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) werden außerhalb des Mutterleibs (In-vitro-Fertilisation) erzeugte Embryonen gentechnisch auf bestimmte Erbkrankheiten und Chromosomenfehler untersucht. Nur gesunde Embryos werden dann in die Gebärmutter eingepflanzt (JF 48/10). Ein Berliner Frauenarzt, der diese Methode angewandt hatte, wurde dafür vom Berliner Kammergericht wegen Verstoß gegen das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verurteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) befand hingegen, daß die PID weder mit dem Gendiagnostikgesetz (GenDG) kollidiere noch gegen das ESchG von 1990 verstoße. Oberste Bundesrichter läuteten damit für die Reproduktionsmedizin ein „neues Zeitalter“ ein (Joachim Müller-Jung in der FAZ vom 7. Juli 2010). Frauen dürfen seitdem in künstlicher Befruchtung erzeugte Embryonen straffrei eingepflanzt werden, die zuvor negativ auf genetische Krankheitsheitsdispositionen untersucht worden sind.

Das Urteil des 5. Strafsenats des BGH vom 6. Juli 2010 (5 StR 386/09):  www.bundesgerichtshof.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen