© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/11 18. März 2011

Requiem für einen grauen Kasten
Meisterliches über unser ostdeutsches Kulturerbe: Band zwei der Geschichte des Königsberger Schlosses
Philipp Reimer

Im Gegensatz zu unserem Ex-Verteidigungsminister Baron zu Guttenberg haben Wulf Wagner und Heinrich Lange die „Übersicht über die Quellen“ nie verloren. Das allein schon ist bei einem atlasformatigen, garantiert googlefesten, nicht plagierten Monumentalwerk von 600 Seiten mit beinahe 4.000 Fußnoten eine spitzensportliche Leistung. Allerdings für den wissenschaftlichen Langstreckenläufer Wagner keine außergewöhnliche: Nach drei dicken Büchern über die ländliche Kultur Ostpreußens und dem ersten Band seiner Geschichte des Königsberger Schlosses ist der vor nun veröffentlichte zweite Band dieser europäisch dimensionierten Bau- und Kulturgeschichte binnen sechs Jahren sein fünfter kiloschwerer Beitrag zur Historiographie des alten Ordenslandes. Wenn das in dieser einmalig hohen Taktzahl so weitergehen soll, wünscht man dem Mittvierziger eine stabile Gesundheit.

Obwohl nach dem 1255 einsetzenden, bis in die Regierungszeit des „Soldatenkönigs“ führenden ersten Band (Regensburg 2008) „nur“ noch zwei Jahrhunderte zu bewältigen waren, sprudelten die Quellen des Geheimen Staatsarchivs in Berlin-Dahlem doch so munter, daß sich der Umfang der Fortsetzung fast verdoppelte.

Daran haben auch die detektivischen Ermittlungen Heinrich Langes ihren Anteil, die der Mikrogeschichte der bis 1968 planierten Schloßruine im sowjetischen Kaliningrad nachgehen. Mit der Akribie des um die Sicherung der deutschen Hinterlassenschaft im nördlichen Ostpreußen vielfach verdienten Archäologen der Zeitgeschichte präsentiert Lange auch seine Forschungen zum Schicksal der Kunstsammlungen des Schlosses, der prähistorischen „Prussia“-Bestände, der Silberbibliothek, der Akten des Staatsarchivs und hier eher um Vermeidung jeder Sensationshascherei bemüht des legendären „Bernsteinzimmers“.

Wagners Hauptteil erzählt die Geschichte eines der mächtigsten Profanbauten des deutschen Ostens. Als Residenz der preußischen Könige wirkt die alte Ordensburg allerdings wie eine kolossale Zweitwohnung. Denn länger als nur ein paar Tage haben die Berliner Majestäten dort nie gewohnt. Ausgenommen Königin Luise und Friedrich III., die es 1808 ein knappes Jahr lang als Ausweichquartier auf der Flucht vor Napoleon nutzten. Angesteuert haben es aber fast alle, um sich huldigen zu lassen, oder sich, wie der spätere Kaiser Wilhelm I. 1861, selbst zu krönen. Jene Zeremonien strukturieren als Knotenpunkte Wagners Darstellung. Den Ablauf dieser monarchischen Inszenierungen protokolliert er genauer als ein Oberhofmeister. Das reicht von den Begrüßungsansprachen bis zur Menüfolge.

Mit gleicher Exaktheit breitet der Architekturhistoriker die endenden Renovierungen und die zumeist nicht realisierten Umbaupläne aus. Darüber vergißt Wagner nicht, daß das Königsberger Schloß im langen 19. Jahrhundert, bis zum Sturz der Hohenzollern am 9. November 1918, ein multifunktionaler Bau war. Bis in die 1870er Jahre residierte dort der höchste Beamte Ostpreußens, der Oberpräsident. Damit drängt sich die Verwaltungs- und politische Geschichte der Provinz, zu der zwischen 1824 und 1878  auch Westpreußen gehörte, automatisch ins Bild.

Zu Recht beklagt Wagner dabei, gelegentlich seiner Charakterstudie des 1882 von Bismarck „abgesägten“ Oberpräsidenten Karl von Horn (1869–1882), wie wenig der Forschungsstand zu Ostpreußens Entwicklung im Kaiserreich es ihm erlaubt habe, das Schloß als Verwaltungszentrale noch präziser in einen größeren historischen Kontext einzubetten. Ein letztes Mal im Mittelpunkt auch national bedeutsamer Ereignisse stand der „graue Kasten“ am Pregel im März 1919. Da beendete der Sozialdemokrat August Winnig als Reichskommissar das Regime der „Arbeiter- und Soldatenräte“ und ihres bewaffneten Arms, der im Schloß verschanzten „Marine-Volkswehr“. Die war bereit, die aus dem Baltikum anrückende Rote Armee mit offenen Armen zu empfangen und ihr das Tor nach Ostpreußen und Deutschland weit offen zu halten.

Während der Weimarer Zeit verwandelte sich das Schloß in ein Museum. Zum Staatsarchiv, das 1930 jedoch in einen Neubau am Nordbahnhof umzog, gesellte sich mit den überbordenden Schatzkammern der „Prussia“ eine der weltweit reichsten prähistorischen Sammlungen. Hinzu kam eine Gemäldegalerie, und die ehemaligen königlichen Gemächer luden nun erstmals das Volk zur Besichtigung ein. Im gewaltigen Moskowitersaal entstand 1927 ein „Kriegsmuseum für Ostpreußen“. Leiter der zum Ostpreußischen Landesmuseum vereinten Schloßsammlungen wurde 1927 der Kunsthistoriker Alfred Rohde, der nachmals sagenumwobene „Hüter des Bernsteinzimmers“, der im Herbst 1945 im sowjetisch besetzten Königsberg umkam (JF 15/10). Die Wirksamkeit des Lovis-Corinth-Biographen, vor allem seine Verdienste um die „klassisch-moderne“ Bereicherung der Kunstsammlung, stellen Wagner und Lange in gebührender Ausführlichkeit heraus.

In der NS-Zeit blieb der Expressionismus-Liebhaber Rohde im Amt. Die „Machtergreifung“ führt im Innern des Schlosses zunächst nicht zu einer Zäsur, bis dann 1937 eine nicht ganz konsequente, Max Liebermann übersehende Aussonderung der „entarteten Kunst“ einsetzte. Außen vor der Fassade und im weiten Hofareal nutzte Gauleiter Erich Koch den historischen Bau lediglich als Kulisse für vielerlei Parteispektakel. Sieht man von dem personell schwach besetzten Oberlandesgericht im Nordflügel ab, spielte das Geviert im Herzen der Stadt nicht mehr die geringste politische, administrative oder gar militärische Rolle. Englische Phosphorbomben legten Ende August 1944 also ein Museum, ein rein ziviles Objekt in Schutt und Asche.

Wie souverän die Autoren über ihr Material gebieten, erweist sich an der minimalen Fehlerzahl. Hier und da ist neuere Literatur nicht berücksichtigt; äußerst selten unterlaufen ihnen Falschangaben wie „Erich Kandis“ und „Alfred Karach“, wenn die Heimatschriftsteller Karschies und Karrasch gemeint sein sollen. Den Vergleich mit den größten Leistungen der ostdeutschen Historiographie nach 1945, Fritz Gauses dreibändiges Epos zur Geschichte Königsbergs, Willi Drosts kunsthistorische Rettung der Danziger Kirchen oder Günther Grundmanns Konservierung der schlesischen Kulturlandschaft brauchen Wagner und Lange mit ihrem Opus nicht zu scheuen. Und auch im gesamtdeutschen Rahmen der Stadt- und Regionalgeschichte bleibt ihre Konkurrenz überschaubar. 

Wulf W. Wagner/Heinrich Lange: Das Königsberger Schloß. Eine Bau- und Kulturgeschichte. Band 2: Von Friedrich dem Großen bis zur Sprengung. Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2011, gebunden, 608 Seiten, Abbildungen, 89 Euro

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