© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Strahlende Zukunft
Kernkraft: Trotz der Reaktorkatastrophe in Japan geht weltweit der Bau von Atommeilern weiter / Spitzenreiter USA – China und Rußland holen auf
Joachim Feyerabend

Die Kernkraft bleibt auf dem Vormarsch, bereits laufende Neubauten können kaum gedrosselt werden. Viele Nationen denken nicht daran, sich von den japanischen Geschehnissen beeinflussen zu lassen. Ihr steigender Energiebedarf – selbst in Brasilien und den Ölländern Venezuela und Libyen – soll zu einem Teil aus Atommeilern gedeckt werden. Vergangene Woche unterzeichneten  Rußland und Weißrußland einen Vertrag zum Bau eines Atommeilers nahe der weißrussisch-lettischen Grenze. Auch Vietnam, das bisher kein Atomkraftwerk  besaß, plant beispielsweise für die nächsten 20 Jahre acht Reaktoren.

  Weltweit arbeiten in 30 Ländern derzeit 442 AKWs, weitere 67 sind im Bau, der Löwenanteil entfällt hierbei mit 27 auf China. In einem fortgeschrittenen Planungsstadium befinden sich zudem 102 Blöcke in 20 Ländern. Siemens-Chef Peter Löscher hielt unlängst sogar den Bau von 400 neuen Kernkraftwerken für möglich. Doch die von der Industrie herbeigeredete Euphorie scheitert zunächst schon einmal daran, daß weltweit ein Fachkräftemangel auf diesem Gebiet zu verzeichnen ist.

Ein weiterhin ungelöstes und schwerwiegendes Problem bei der globalen Nutzung der Atomkraft ist die Tatsache, daß es weltweit bislang nicht ein einziges Endlager gibt. Stattdessen staut sich der strahlende Müll von Jahrzehnten in 121 oberirdischen Zwischenlagern. 2009 mußten auch die Amerikaner Endlagerpläne im Yucca Mountain/Nevada aufgeben. Es war wissenschaftlich nachgewiesen worden, daß der dortige Granit die Voraussetzungen für eine sichere Dauerablage nicht erfüllt. Nach den US-Plänen sollten in diesem Erdbebengebiet 77.000 Tonnen hochradioaktive Atomabfälle eingebunkert werden. Bis zum Verbot 1994 wurden zudem mehr als 100.000 Tonnen weltweit einfach ins Meer gekippt, in den Atlantik, die Ostsee und das Mittelmeer beispielsweise.

Spitzenreiter in der Nutzung der Kernenergie sind die USA mit 104 Werken, gefolgt von Frankreich mit 58, Japan mit 55 und Rußland mit 32. Die Regierung in Moskau kündigte bereits an, daß sie jedes Jahr mindestens ein neues Werk in Betrieb nehmen will. China will seine Kapazitäten in den nächsten Jahren sogar verdoppeln, hat aber angesichts der Katastrophe in Japan die Mitte März verkündete Bauoffensive für neue Kernkraftwerke, fast alle an der Küste, überraschend zur Überprüfung auf Eis gelegt. Auch Rußland, Südkorea und Indien setzen weiter auf Atomkraft. Völlig außer Kontrolle sind die atomaren Pläne des „geliebten Führers“ Kim Jong-il in Nordkorea. Eine scharfe Abgrenzung zwischen ziviler und militärischer Nutzung ist wie auch im Iran nur schwer möglich. Kaum eines dieser Länder stellt die Kernenergie in Frage. So bleibt Australien der einzige Kontinent (zusammen mit der unbewohnten Antarktis), in dem es noch keine „strahlende Zukunft“ gibt.

In der Vergangenheit wurden bereits 124 ältere oder veraltete Meiler stillgelegt. Diese Zahl besagt aber wenig, da in der Regel durch Neubauten mit weit höheren Kapazitäten Ersatz beschafft wurde. In den USA ging seit dem Unfall in Harrisburg im Jahr 1979 kein neuer Meiler mehr ans Netz. Allerdings stellte Präsident Barack Obama für sein völlig überschuldetes Land 54 Milliarden Staatsbürgschaften für Neubauten in Aussicht.

Nach Meinung der Internationalen Energieagentur IEA in Paris wäre es nötig, die atomaren Kapazitäten bis zum Jahr 2050 zu verdreifachen. Im Klartext bedeutete dies den Bau von Hunderten neuer Blöcke. Einer Marktanalyse von A.T. Kearney, einer unabhängigen Managementberatung, zufolge, rechnen sich Atomkraftwerke jedoch längst nicht mehr. Dies werde zu einer weiteren Überalterung der bestehenden Anlagen führen und die Risiken erhöhen. Auch die Unternehmensberatung Moody’s und die City-Bank in Frankfurt raten von Investitionen in Kernkraftwerke ab. Das angelegte Kapital sei mindestens zwanzig Jahre gebunden. Erst nach Abschreibung der Meiler würden diese zu Gelddruckmaschinen. Das ist schlicht der Hintergrund, warum in Deutschland die Betreiberkonzerne so verbissen um eine Laufzeitverlängerung kämpften. Gutachten im Auftrag der Schweizer Kantone Basel-Stadt und Genf kamen für eventuelle eidgenössischen Neubaupläne zu demselben Ergebnis.

Alle diese Gutachten gehen von wirtschaftlichen Aspekten aus, doch gerade Japan hat jetzt gezeigt, daß es andere, noch wichtigere Gesichtspunkte gibt. In diesem Zusammenhang war der Gedanke der philippinischen Regierung, einen 20 Jahre alten Meiler zur Behebung seiner Energiekrisen wieder zu aktivieren, mehr als bedenklich. Der Reaktor steht am Fuß des potentiell aktiven Vulkans Natib südlich des Pinatubo, dessen verheerender Ausbruch nach über 600 Jahren Ruhe noch in böser Erinnerung ist.

Und so erstaunt es immer mehr, daß die Türkei unter Ägide des russischen Konzerns Rosatom ihr erstes Atomkraftwerk in der Provinz Mersin an der Mittelmeerküste bauen will. Bei einem Besuch in Moskau in der vergangenen Woche lobte der türkische Ministerpräsident Recep T. Erdoğan laut Nachrichtenagentur Ria Novosti das Projekt in höchsten Tönen: „Ich bin sicher, daß das AKW, das in der Türkei gebaut wird, zu einem Musterbeispiel für die ganze Welt wird.“ Parallel dazu ist ein weiteres Kernkraftwerk an der türkischen Schwarzmeerküste geplant. Beide Projekte liegen in stark erdbebengefährdeten Gebieten.

Die Türkei gilt als eines der am stärksten von seismischen Erschütterungen heimgesuchten Länder. Ähnliches gilt für den erdbebengeschüttelten Iran, wo demnächst in Buschehr sein umstrittenes Atomkraftwerk in Betrieb gehen soll. Auch Indonesien plant in einer vulkanisch und tektonisch sehr aktiven Zone auf der Bangka-Insel östlich Sumatra ein solches Kraftwerk. Und nicht zuletzt soll das größte Atomkraftwerk der Welt in Indien südlich von Mumbai entstehen, in einem Gebiet, in dem es zwischen 1985 und 2005 zu 92 Erdbeben gekommen ist. Indien gehört mit seinen 20 Meilern schon jetzt zu den sechs größten Kernkraft-Nationen.

Nach Angaben der World Nuclear Association (WNA) liegen ohnehin etwa 20 Prozent der heutigen Atomkraftwerke in seismisch instabilen Gebieten.

 

Streit um Uranvorkommen

Während  Atomkraftgegner darauf verweisen, daß spätestens ab dem Jahr 2020 das Uran aus den erschlossenen Minen nicht mehr ausreichen wird, werten Kernenergieunternehmer Uran als Ressource mit Zukunft. Demnach reichen, Angaben der OECD zufolge, die bekannten und zu einem Preis von 130 Dollar pro Kilogramm wirtschaftlich abbaubaren Uranreserven beim gegenwärtigen weltweiten Verbrauch für die nächsten 100 Jahre. Dieser Einschätzung entsprechen die Werte der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Demnach ist die „weltweite Versorgung mit Kernbrennstoffen für die nächsten Jahrzehnte sichergestellt, wenn man von einem jährlichen Bedarf von rund 68.646 Tonnen Uran ausgeht“. Explizit lag die Menge des im Jahr 2009 gewonnenen Natururans bei 50.773 Tonnen. Sie deckte somit rund 75 Prozent des Bedarfs. Weltweit größter Uranförderer war im Jahr 2009 Kasachstan mit 14.000 Tonnen, gefolgt von Kanada (10.200 t), Australien (7.900 t) sowie Namibia (5.400 t).

Foto: Atomkraftwerke weltweit: Während im Westen der Bau von Kernkraftwerken stagniert, rüstet der Osten auf 

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