© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Pankraz,
Plotinos und die Welt der Strahlen

Alles, was strahlt, ist angesichts der jüngsten Ereignisse in einen überaus schlechten Ruf geraten. Das Wort „Strahlung“ ist heute ein Horrorwort, mit dem automatisch die gräßlichsten Assoziationen verbunden werden, Tod, Siechtum, Verbotszone. Kaum jemand vergegenwärtigt sich noch, daß es eine Welt ohne Strahlung gar nicht geben kann, ja, daß Strahlung und Welt faktisch dasselbe meinen. Zwischen Strahlung und Welt muß man ein Gleichheitszeichen setzen. Jede Wissenschaft hat es mit Strahlung zu tun, von der Vulkanologie bis zur Theologie.

Für Chemie und Biologie bildet Strahlung geradezu das A und O jeglichen Forschungsansatzes. Der Austausch der Elektronen oder Ionen, der die Elemente zerfallen läßt und neue hervorbringt – Strahlung. Jede Form von Energieübertragung geschieht durch Strahlen, seien es nun Lichtstrahlen (Photonen) oder Korpuskularstrahlen, Neutronenstrahlen, Beta-, Gamma- oder kosmische Strahlen. Alles, was da ist, strahlt und macht sich dadurch erst wirklich; die Radioaktivität stellt nur einen besonders kräftigen und deshalb relativ leicht, wenn auch nur indirekt, wahrnehmbaren Spezialfall dar.

Der Mensch ist, wie jede andere Kreatur, in seinem Leben einer Fülle der verschiedensten Strahlungen ausgesetzt. Strahlen sind es, die den Gen-Apparat mutieren lassen und so die biologische Evolution in Gang bringen. Strahlen stabilisieren unsere Gesundheit und heilen Krankheiten, wie sie auch welche verursachen können. Absoluter Schutz vor Strahlen existiert nicht, er ist auch gar nicht notwendig und nicht einmal wünschenswert, Es kommt hier einzig und allein auf die jeweils richtige Dosierung an. Gefährliche Strahlung „an sich“ gibt es nicht, so wenig wie es Gift „an sich“ gibt.

Leider hat der Mensch für die meisten Strahlen kein natürliches Sinnes- und Kontrollorgan, weder für die kosmischen Strahlen noch für Atom- und Molekularstrahlen. Man sieht und hört sie nicht, man schmeckt sie nicht, man riecht sie nicht, und man fühlt sie auch nicht. Außerdem steckt die Wissenschaft, trotz aller Fortschritte, immer noch im Anfangsstadium ihrer Strahlenforschung. So kann es nicht wundernehmen, daß der Gedanke an die nicht wahrnehmbaren und dennoch unter Umständen so effektiven Strahlen handfeste Ängste auslöst. Das sinnlich Unwahrnehmbare und dennoch äußerst Wirksame ist das Grauen.

Die Religion spendet da längst keine Beruhigung mehr, obwohl auch sie, gerade das Christentum, bis oben hin angefüllt ist mit der Metaphorik der Strahlung. Es gibt in den diversen Lehren Strahlenwunder zuhauf, und sie werden stets  mit großem Pathos als Momente höchsten Heils gepriesen. Aber die Überzeugungskraft beim Publikum schwindet eben. Man will nichts mehr davon hören.

Dabei könnte es gewiß nicht schaden, sich einmal die ungeheure Positivität zu vergegenwärtigen, die den Strahlen schon in der europäischen Antike und in unserer ganzen, vom Christentum tief geprägten Kulturgeschichte stets zugewiesen wurde. Nicht nur das sogenannte Pfingstwunder in der Apostelgeschichte manifestierte sich ja durch Strahlung, sondern nachgerade jede Figur der christlichen Ikonologie ist von einer strahlenden Aura umgeben (der Teufel dagegen wird nie mit einer Aura gezeigt).

Die christliche Mystik des Abendlands erweist sich faktisch als plane Fortsetzung der Emanationslehre des Neuplatonikers Plotinos in der Antike, nach der alle Keime des Seins aus dem göttlichen Urgrund „herausstrahlen“ und das Heil in der größtmöglichen Nähe zur Strahlenquelle besteht. Nur was strahlt, sich üppig verstrahlt, steht in der Gnade des Herrn. Einer kann noch so häßlich sein, strahlende Augen retten ihn.

Noch die europäische Aufklärung hielt an diesem Lobpreis der Strahlen fest, verstand sich  selbst als lichtvolle Strahlung in einem Orkus der Dunkelheit und der Dummheit. „Abschalten“ ist ein Gedanke, der in der abendländischen Überlieferung, sei sie nun christlich-mystisch oder aufklärerisch-wissenschaftlich geprägt, gänzlich fehlt. Es konnte immer nur darum gehen, die Herausforderung, die in neu entdeckten oder technisch erstmals genutzten Strahlen lag, genau abzumessen, ihre Heilkraft freizulegen, eventuelle Gefahren rechtzeitig zu erkennen und einzugrenzen, das berühmte Restrisiko an Null anzunähern.

Eine solche exakte Abmessung mag durchaus einschließen, daß man bei gravierenden Störfällen, über die es noch keine hinreichende Aufklärung gibt, zunächst einmal die praxisversessenen Finger von den betreffenden Strahlen läßt – aber nie und nimmer darf sie einschließen, daß man im selben Takt die forschende und reflektierende Aufmerksamkeit von ihnen läßt. Aufgeschoben bedeutet nie und nimmer aufgehoben. Das Urvertrauen in den grundsätzlich wohltätigen Sinn von Strahlung ist dem Abendland spätestens seit Platon und Plotinos unausrottbar eingepflanzt.

Wenn heute in Deutschland die vereinigten Gutmenschen unter Führung selbsternannter grüner Großökologen und evangelischer Pfaffen mit drohend erhobenem Zeigefinger nur noch über Abschalten und Aussteigen predigen, begehen sie schlicht Verrat sowohl an der christlichen wie an der aufklärerischen Tradition. Früher hätten sie damit ausgerechnet bei den Deutschen, dem sprichwörtlichen Volk der Techniker und Tüftler, kaum einen Blumentopf gewinnen können. Doch heute gewinnen sie damit möglicherweise sogar politische Wahlen.

Das macht: Ein Volk, das – mit Thilo Sarrazin zu sprechen – dabei ist, sich selber abzuschaffen, hat natürlich viel übrig fürs Abschaffen und Abschalten überhaupt. Die globale Ökobilanz wird dadurch allerdings nicht verbessert. Es gibt genügend andere Völker, die zur selben Zeit dabei sind, sich resolut zu verdoppeln, und die brauchen den Atomstrom, um die vielen neuen Mäuler zu stopfen. Diese Völker kümmern sich weniger um Strahlenforschung als um Strahlenkonsum. Dabei kommt doch gerade bei der Strahlung alles auf die richtige Dosis an!

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