© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Konservativer Vorbehalt
Wiederkehr einer Kontroverse: Skepsis gegenüber der Fortschrittstrunkenheit der Moderne
Karlheinz Weissmann

Die Intensität, mit der die Umweltkatastrophe in Japan hierzulande diskutiert wird, hat nicht nur mit den erwarteten politischen und wirtschaftlichen Rückwirkungen zu tun, auch nicht nur mit den tatsächlichen oder eingebildeten Gefahren. Vor allem bei der neuen Debatte über die friedliche Nutzung der Atomenergie geht es um die Wiederkehr einer Auseinandersetzung, die kaum irgendwo so heftig und so kontrovers ausgetragen wurde wie in Deutschland.

Eine Ursache dafür war, daß die „Umweltkrise“ der siebziger Jahre zu einer nachhaltigen ideologischen Irritation führte: seither verläuft die Front zwischen „Bewahrern“ und „Veränderern“ anders als üblich. Denn es stehen sich eine mehrheitlich linke „Ökologiebewegung“ auf der einen Seite und bürgerliche Kernkraftbefürworter auf der anderen Seite gegenüber.

Mit Blick auf den aktuellen Wahlkampf in Baden-Württemberg sprach die FAZ schon davon, daß der CDU in Gestalt der Grünen die Konkurrenz eines „anderen Konservatismus“ drohe. Der Versuch der Christdemokraten jedenfalls, kurz vor der Entscheidung ökologisch aufzuholen, wirkt wenig überzeugend, und die plötzliche Besinnung darauf, daß der Schutz der Natur zu den genuin konservativen Anliegen gehört, hat nur mit der Angst vor Stimmenverlusten zu tun.

Man darf deshalb aber nicht aus dem Blick verlieren, daß die heute übliche Auffassung von einer technikfreundlichen Rechten und einer technikfeindlichen Linken keinesfalls selbstverständlich ist. Tatsächlich gab es im konservativen Lager immer einen starken Vorbehalt gegenüber der Entwicklung, die im Gefolge der Industriellen Revolution einsetzte. Das hatte neben einem mehr oder weniger reflektierten Traditionalismus auch zu tun mit religiösen und ästhetischen Motiven. Vor allem aber ging es um einen prinzipiellen Vorbehalt gegenüber den Erwartungen, die Liberale, Demokraten und Sozialisten an die Moderne knüpften.

Im Jahr 1908 veröffentlichte Georges Sorel sein Buch „Les Illusions du Progrès“ (dt. „Die Illusionen des Fortschritts“). Der Titel war eine Provokation angesichts der Fortschrittstrunkenheit des 19. Jahrhunderts, das gerade zurücklag, angesichts des 20. Jahrhunderts, das hoffnungsvoll begonnen hatte. Sorel sprach von der üblichen Auffassung des Fortschritts als einer „scharlataneresken Idee“, ohne doch zu bestreiten, daß es einen „tatsächlichen Fortschritt“ gebe.

Was der Sozialphilosoph unterschieden wissen wollte, war die Idee einer vollständigen Humanisierung des Menschen, wie sie seit der Aufklärung die Köpfe der Gebildeten beherrschte, und der Realität des technischen Prozesses, der mit der Industrialisierung eingesetzt hatte. Dieser „tatsächliche Fortschritt“, so Sorel, bedeute aber eben nicht ein Mehr an Freiheit, sondern ein neues System von Zwängen, kein maschinell erzeugtes Schlaraffenland, sondern eine technische Welt, die von einer neuen Elite der Ingenieure und Experten beherrscht werde, und sicher kein grenzenloses Wachstum, denn ein entscheidendes Problem sei die Energieversorgung von Maschinen.

Sorel blieb in Frankreich einsam mit seiner Gegenwartsdeutung. In Deutschland hätte seine Fortschrittsskepsis eher Verständnis gefunden. Nur waren die Motive des Vorbehalts andere, gab es in Deutschland aus der Romantik starke Impulse, die zur Entstehung von Natur- und Heimatschutz geführt hatten, oft verknüpft mit einem regional verwurzelten Konservatismus. Traditionen, die während der Vorkriegszeit in Lebensreform- und Jugendbewegung mündeten. Deren große Manifestation war die Tagung auf dem Hohen Meißner am 11. und 12. Oktober 1913.

Der Philosoph Ludwig Klages hat zur Meißner-Festschrift einen programmatisch Text „Mensch und Erde“ beigesteuert, in dem es hieß: „Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft.“ Und: „Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges haben nicht so gründlich in Stadt und Land mit dem Erbe der Vergangenheit aufgeräumt wie die Übergriffe des modernen Lebens mit seiner rücksichtslos einseitigen Verfolgung praktischer Zwecke.“

„Mensch und Erde“ ist seitdem in zahlreichen Auflagen gedruckt worden. Der Text hat den Gang der Entwicklung aber kaum beeinflußt, geschweige denn aufhalten oder umkehren können. Er markierte allerdings die Position eines radikalen ökologischen Konservatismus, dem am anderen Ende des Spektrums Sorels Entwurf einer konservativen Technokratie gegenüberstand. Beide Modelle, das der Ursprungsverhaftung wie das der neuen Hierarchie, entwickelten eine erhebliche Anziehungskraft auf die rechte Intelligenz der Zwischenkriegszeit.

Man kann das deutlich an den geistigen Biographien der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger ablesen, die ihren Ausgangspunkt bei einer konventionellen Fortschrittskritik nahmen, die sie unter dem Eindruck der Kriegserfahrung in Frage stellten, was bei Ernst Jünger mit seiner Schrift „Der Arbeiter“ zu einer radikalen Bejahung der Maschinenwelt führte, die allerdings nicht von Dauer war, während sein Bruder mit „Die Perfektion der Technik“ jene konservative Technikphilosophie schrieb, die – anders als die von Klages – schon den ausgebildeten Stand der Entwicklung beurteilen konnte.

„Die Perfektion der Technik“ war in einer ersten Fassung bereits 1938 abgeschlossen, konnte aber erst 1946 im Druck erscheinen. Die Wirkung war erheblich, was sich auch aus der konservativen Atmosphäre der späten vierziger und fünfziger Jahre erklärt. Vergleichbar etwa dem Widerhall, den Martin Heideggers Rede über „Die Frage nach der Technik“ vor der Bayerischen Akademie der Schönen Künste im Herbst 1953 hatte. Hier wie dort kam auch das Bedürfnis zum Tragen, die Erfahrung der totalen Vernichtung – insbesondere durch den Einsatz der Atombombe – zu verarbeiten und sie als Teil eines nihilistischen Prozesses zu deuten, dessen entscheidender Aspekt die Emanzipation der Maschine vom Menschen war.

Aber diese Gestimmtheit war nicht von Dauer, konnte es nicht sein, in einem Land, das Wiederaufbau und Wirtschaftswunder erlebte, wo Fortschrittsfeindlichkeit leicht der Ruch des „Faschistischen“ anhaftete, mindestens der „Rückständigkeit“, in den nicht einmal die Parteikonservativen kommen wollten: Der Ausbau des westdeutschen Autobahnnetzes wurde ganz wesentlich durch Hans-Christoph Seebohm, Verkehrsminister aus den Reihen der Deutschen Partei, vorangetrieben. Dahinter stand allerdings kein ernstzunehmendes weltanschauliches Konzept, nur Opportunismus.

Bezeichnend war aber, daß auf seiten der Rechtsintellektuellen der „technokratische Konservatismus“ eines Arnold Gehlen, Ernst Forsthoff oder Helmut Schelsky die Szene beherrschte, während die ökologisch Orientierten nur ein Nischendasein fristeten. Das änderte sich erst angesichts der „Umweltkrise“, angefangen bei den wirkungsvollen Appellen der Ethologen Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt, die vor den dramatischen Folgen des Artensterbens und der Naturzerstörung warnten, über die Stellungnahmen von Philosophen wie Robert Spaemann, Reinhart Maurer und Odo Marquard, des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr oder von Publizisten wie Konrad Adam und Gerd-Klaus Kaltenbrunner, bis hin zu einzelnen Politikern, darunter der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl, der 1975 mit einer fundamentalen Industriekritik – dem Buch „Himmelfahrt ins Nichts“ – einen Bestseller schrieb.

Seit 1971 stand dem ökologischen Konservatismus in der von Friedrich Georg Jünger und Max Himmelheber herausgegebenen Zeitschrift Scheidewege auch ein eigenes Forum zur Verfügung. Aber innerhalb des konservativen Lagers war diese Gruppe relativ isoliert, oft verspottet, als nützliche Idioten des Gegners verdächtigt, denn die ökologische galt als eine Sache der Linken. Daran war soviel richtig, daß sich die Grünen, die als Bewegung jenseits von links und rechts begonnen hatten, konsequent in eine linksradikale Partei verwandelten.

Andererseits kann man Marquard schwerlich widersprechen, der 1982 von „verspieltem Konservatismus“ sprach: wobei es nicht nur um die grüne Neigung ging, sich fallweise „wertkonservativ“ zu drapieren, ohne mit der Sache selbst Ernst zu machen, sondern auch darum, daß die Konservativen eine Chance „verspielt“ hatten.

Foto: AKW Neckarwestheim im Landkreis Heilbronn: Appelle mit der Warnung vor Naturzerstörung und fundamentale Industriekritik

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