© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

In der Abgeschiedenheit der Berge
Gewissenhafte Naturbeobachtungen: Segantini-Ausstellung in Riehen bei Basel
Sebastian Hennig

Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoß er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde.“ So beginnt Friedrich Nietzsches dichterisches Hauptwerk. Es wurde ihm eingegeben von der klaren Luft des Oberengadin. Diese Gegend wird auch die letzte Zuflucht des 1858 in Arco in Welschtirol geborenen Giovanni Segatini. (Das zweite N übernimmt er erst während der Mailänder Studienzeit in den Namen).

Früh verwaist, verläßt er unfreiwillig den See seiner Heimat und verliert auf Betreiben der die Vormundschaft über ihn ausübenden Stiefschwester die österreichische Staatsbürgerschaft, ohne die italienische dafür zu erhalten. Er bleibt zeitlebens staatenlos, wie es zu einem Maler paßt, der sich mehr lokalpatriotisch als national definiert.

Die Urenkelin des Künstlers, Diana Segantini, ist eine von drei Kuratoren der Ausstellung. Sie lebt in der „Casa Segantini“ in Maloja, wo sie angemeldete Besucher durch die Wohn- und Arbeitsräume ihres Urgroßvaters führt. Der lebte dort nur die letzten fünf Jahre vor seinem frühen Tod im 41. Lebensjahr. Ein Engadiner Gipfel, der Schafberg, wurde sein Verhängnis. In 2.731 Meter Höhe erkrankte er 1899 an einer Bauchfellentzündung. Weder der Abstieg noch eine Operation waren möglich. Auf dem unbequemen Sterbebett verlangte er noch einmal seine Berge zu sehen: „Voglio vedere le mie montagne!“

Segantini war ein ausdauernder und wetterfester Freiluftmaler. In einem Brief beschreibt er ein Jahr vor seinem Tod dem Dichter Domenico Tumiati seinen Arbeitsplatz: „Hier erfüllt mich eine große Freude, meine Augen begeistern sich am Blau des Himmels, am zarten Grün der Weiden, ich betrachte die stolzen Bergketten, in der Hoffnung, sie zu erobern und indem ich mit der Farbe als harmonischer Schönheit zu rechnen begann.“

Aus der Abgeschiedenheit der Berge beschickte der Maler die wichtigsten Ausstellungen in ganz Europa und war 1895 auch auf der ersten Biennale in Venedig vertreten. Ein gigantisches Panorama seines Engadin wollte er 1896 für die Pariser Weltausstellung anfertigen. Dieser Plan scheiterte schließlich an der Finanzierung. Das statt dessen realisierte Alpentriptychon wird schließlich nicht im Schweizer, sondern im italienischen Pavillon gezeigt. Heute hat es seinen festen Platz im Kuppelsaal des Segantini- Museums in St. Moritz.

In der Ausstellung in Riehen geben die großformatigen Vorzeichnungen zum Triptychon Aufschluß über die malerische Methodik des reifen Segantini. Ähnlich wie in Edvard Munchs großem Lebenszyklus gelingt es ihm hier präzise Naturbeobachtung mit spiritueller Symbolik zu Ansichten von hoher dekorativer Wirkung zu verbinden. So wenig wie des Norwegers Kunst mit dem Begriff Expressionismus erfaßt werden kann, lassen sich Segantinis feine Farbgewebe dem Impressionismus zuordnen. An den Werken der singulären Meister wird deutlich, daß diese Klassifizierungen ihren Ursprung in Abwertungen haben und allenfalls für die Mitläufer Geltung besitzen.

Durch die Fenster der von Tageslicht erfüllten Ausstellungsräume des Museums macht sich zuweilen die umgebende Landschaft geltend und bekräftigt die großartigen Bemühungen des Malers, der unerschöpflichen Wandlungsfähigkeit der Natur im Kunstwerk Stabilität zu verleihen. Anders als die oftmals geheimnislos wirkende Technologie der französischen Pointillisten vom Schlage Seurats sind seine Bilder von glühender Leidenschaftlichkeit. Sein Divisionismus hat mehr mit Jean-Francois Millet und gewiß auch mit Vincent van Gogh gemeinsam als mit den sterilen Neo-Impressionisten.

Religiöse Bezüge und allegorische Botschaften sind ihm wichtig und in seinen Darstellungen unteilbar mit den gewissenhaftesten Naturbeobachtungen verbunden. Es ist die Überzeugung des wachen Beobachters, daß selbst die gewöhnlichsten Handlungen in einer elementaren Landschaft immer noch etwas mehr bezeugen als ein notwendiges oder zufälliges Ereignis. Das feierlichste Abendmahl in einer jener damals schnell hochgezogenen Riesenkirchen in den wachsenden Metropolen kann banal wirken gegenüber der „Bündnerin am Brunnen“ (1887), die das klare Bergwasser aus der hohlen Hand trinkt. Die gesunde Gestalt in der weißen Bluse wird hinterfangen vom Grün der Gebirgsmatten. Das „Ave Maria bei der Überfahrt“ zeigt zwei Hirten, von ihrer Herde an den Rand des Kahnes gedrängt, beim Abendgebet, während die Seelandschaft und der bewaldete Saum langsam in der sinkenden Sonne ihre Farbigkeit verlieren.

Nach den großen Ausstellungen zum hundertsten Todestag 1999 in St. Gallen und zum 150. Geburtstag vor drei Jahren in seiner Geburtsstadt Arco, wird die Schau in Riehen weiter dazu beitragen, daß die hervorragenden Beispiele seiner Kunst auch in den Beständen der öffentlichen deutschen Kunstsammlungen, beispielsweise in Berlin, Leipzig und Hamburg stärker Beachtung finden. Das verbürgt nicht zuletzt der umfängliche Begleitband zur Ausstellung.

Die Segantini-Ausstellung in Riehgen bei Basel ist bis zum 25. April in der Fondation Beyeler, Baselstraße 101, täglich von 10 bis 18 Uhr,  Mi. 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 00 41 / (0)61 / 6 45 97 00 www.fondationbeyeler.ch

Foto: Giovanni Segantini, Bündnerin am Brunnen, 1887: Gewöhnliche Handlung in elementarer Landschaft

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen