© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/11 25. März 2011

Der Flaneur
Der Wurm
Josef Gottfried

Als ob es selbstverständlich wäre, fahre ich mit der Rolltreppe einige Meter unter die Erde. Mit mir tausend andere, denen ich einzeln nicht vertraute, denn sie sind mir fremd. Seltsamerweise erscheint ihr Handeln nur im Schwarm berechenbar. Wir stehen am Gleis und starren in die dunkle Höhle, aus der sich die U-Bahn wie ein großer Wurm durch den Fels in die Station wühlt. Wie stinkenden Atem preßt das Tier Wind in die Station und hält, friedlich, vor unseren gleichgültigen Gesichtern.

Türen auf, keine Reflexion, keine Moral, weitere tausend quillen aus den Poren des Wurms, dann pressen ich und meine Tausend uns hinein in seinen Leib, Türen zu, los geht die Fahrt. Mit gesenktem Haupt schaue ich flüchtig und schüchtern aus den Augenwinkeln einige meiner tausend solitären Kameraden an. Sie wirken nicht stumpf, weder dumm noch grau, in jedem von ihnen ist eigenes, gutes Leben, dann konzentriere ich mich wieder auf mich selbst. Hier könnte jeder jeden töten. Gäbe es nur den Leib dieses Wurms, dann entschiede jeder als eigener Richter über die Mittel, derer er bedürfte, um sich selbst zu erhalten. Recht behielte, wer Macht hätte.

Dann verlangsamt sich die Fahrt: „Aufgrund eines Feuerwehreinsatzes auf der Strecke verzögert sich die Weiterfahrt um wenige Minuten“, erklärt blechern die Stimme durch einen Lautsprecher. Der Schwarm und ich – wir! – bleiben sitzen. Unerwartet, Feuerwehr, unterirdisch. Und wir bleiben sitzen, beklommen vielleicht, aber nicht panisch. Dabei würden wir den, der fällt, zertrampeln und, blieben wir unter uns, niemanden für den Tod der Gefallenen verurteilen. Wer wohl schuld wäre? Niemand!

Als es vorbei ist und ich mit der Rolltreppe hochfahre, ist es schon dunkel. Ich rieche Abgase und lese so viele Leuchtreklamen, bis ich mir endlich einen „coffee to go“ kaufe.

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