© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

„Juristisches Neuland“
Prozeß: Trotz mangelnder Beweise drohen John Demjanjuk sechs Jahre Haft
Georg Pfeiffer

Der seit Dezember 2009 laufende Prozeß gegen John Demjanjuk (JF 52/09) neigt sich dem Ende entgegen. Mitte März hat das Schwurgericht am Landgericht München I in dem Verfahren gegen Demjanjuk die Beweisaufnahme geschlossen, in der vergangenen Woche plädierte Staatsanwalt Hans-Joachim Lutz für eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Der Staatsanwalt wirft dem gebürtigen Ukrainer nichts Konkretes vor, außer daß er zur falschen Zeit am falschen Ort war, nämlich im Jahre 1943 als Wachmann im Konzentrationslager Sobibor im damaligen Generalgouvernement.

Während der Zeit seines Aufenthaltes seien mindestens 27.900 Deportierte, zumeist Juden, in Sobibor ermordet worden. Daran müßten alle der dort eingesetzten Wachleute beteiligt gewesen sein, denn sonst hätte das Aufkommen nicht bewältigt werden können, also habe auch John Demjanjuk bei der Ermordung mitgeholfen, so der Staatsanwalt. John Demjanjuk habe keine erkennbaren Bemühungen unternommen, sich der Maschinerie zu entziehen. Daraus ergebe sich, daß er sich die rassenideologischen Ziele seiner Befehlshaber zu eigen gemacht habe.

Demjanjuk, der den Prozeß hinter einer Sonnenbrille auf einem Spezialbett im Gerichtssaal verfolgt, hat sich selbst zu den Vorwürfen nicht geäußert. Sein Verteidiger bestreitet, daß er überhaupt als Wachmann in Sobibor gedient habe. Er sei während der fraglichen Zeit selbst Kriegsgefangener in Chelm gewesen. Wichtigstes Beweismittel ist ein vermeintlicher Dienstausweis. Das bayerische Landeskriminalamt hält ihn für zweifelsfrei echt. Das Bundeskriminalamt äußerte schwerwiegende Zweifel an seiner Echtheit. Aufgrund eben dieses Dokumentes und mehrerer Aussagen von Zeugen, die ihn zweifelsfrei erkannt haben wollten, war Demjanjuk bereits im Jahre 1988 in Israel zum Tode verurteilt worden, weil er in dem Konzentrationslager Treblinka Häftlinge gefoltert und bestialisch ermordet haben sollte. Dieses Urteil erwies sich als unhaltbar, nachdem die Sowjetunion ihre Archive öffnete. Es wurde in der Berufungsinstanz aufgehoben und Demjanjuk einstimmig freigesprochen. In diesem Verfahren war Presseberichten zufolge auch eine mutmaßliche Tätigkeit Demjanjuks in Sobibor untersucht, das Verfahren mangels an Beweisen aber eingestellt worden.

Mehrere Prozeßbeobachter und die Verteidigung meinen, daß das jetzige Verfahren vor allem darauf beruhe, daß an John Demjanjuk von dem Verfahren in Israel her trotz des schlußendlichen Freispruchs der Ruch eines besonders grausamen „KZ-Schergen“ hängengeblieben sei. Das Urteil wird erweisen, ob ein solch übler Leumund, verbunden mit Dokumenten aus dem „Nebel des Krieges“ und einer historischen Rekonstruktion genügen, um eine Person auch ohne jeglichen Nachweis einer konkreten Handlung oder Tatbeteiligung zu verurteilen. Die Staatsanwaltschaft bezeichnet das als „juristisches Neuland“.

Mörder werden in Deutschland mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft. Die Strafe für Gehilfen richtet sich nach der Strafandrohung für den Täter und ist nach bestimmten Vorschriften zu mildern. An die Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe tritt Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren. Bei der Strafzumessung sind alle Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander abzuwägen, namentlich die Beweggründe und die Ziele des Täters, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. Der Antrag des Staatsanwalts beläuft sich mit den geforderten sechs Jahren auf das Doppelte der absoluten Mindeststrafe, ist aber weit vom möglichen Höchstmaß entfernt.

Bis vor ein paar Jahren gab es in der Strafjustiz den Spruch, anhand dessen Richter ihren Referendaren demonstrierten, wie es im deutschen Strafrecht „nicht“ geht. Er lautete: „Strafmildernd war zu berücksichtigen, daß die Tat nicht ganz nachgewiesen werden konnte.“ Damals war das witzig, weil es in offensichtlichem Gegensatz zum bekannten allgemeinen Zweifelsgrundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) stand. Angesichts einer beinahe siebzig Jahre zurückliegenden Tat und insbesondere für John Demjanjuk, der an diesem Sonntag 91 Jahre alt wird, ist es allerdings gar nicht mehr witzig.

Maßgeblich für den Zweifelssatz ist die Überzeugung des Gerichts. Es muß nicht jeder logisch denkbare Zweifel berücksichtigt werden. Eine absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von niemandem anzweifelbare Gewißheit ist nicht erforderlich, vielmehr genügt ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, das vernünftige und nicht bloß auf denktheoretische Möglichkeiten gegründete Zweifel nicht zuläßt. Das im Mai erwartete Urteil wird erweisen, wie hoch das nach der Lebenserfahrung der Münchner Richter ausreichende Maß an Sicherheit ist.

Foto: John Demjanjuk im Gerichtssaal in München: Zur falschen Zeit am falschen Ort?

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