© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Auf dem Weg ins Regenbogenland
Landtagswahl: Auch wenn sich der grüne Spitzenmann Kretschmann konservativ gibt, steht Baden-Württemberg vor einem grundlegenden Wandel
Kurt Zach

Kernkraft-Metaphern standen in Baden-Württemberg am Tag nach der Landtagswahl hoch im Kurs: „Grüne strahlen“, „Mappus abgeschaltet“, spottete der Boulevard, und in den sozialen Netzwerken witzelte man hämisch, in welchem Konzern denn der CDU-Ministerpräsident mit der kürzesten Laufzeit jetzt „endgelagert“ werde. Das Reaktorunglück in Fukushima hat dem Wahlsieg der Grünen wohl den entscheidenden Dreh gegeben – die Gründe für die Vertreibung der CDU von den Schalthebeln der Macht, an denen sie fast 58 Jahre ununterbrochen saß, liegen tiefer: Auch in Baden-Württemberg weiß kaum noch jemand, wofür die Partei im Landtag eigentlich steht.

Neue Antworten auf diese Frage werden auch so bald nicht gefunden werden. Schon am Tag nach dem Sturz aus dem Paradies begann das erwartbare Hauen und Stechen um die wenigen noch verbliebenen Versorgungsposten in der Landtagsfraktion und dem nach den Stimmenverlusten ebenfalls weniger üppig dotierten Parteiapparat. Zwar hatte Stefan Mappus, der erste abgewählte Ministerpräsident in der Geschichte des Südweststaats, in der Pose des guten Verlierers die Konsequenzen gezogen, auf eine erneute Kandidatur für den Landesvorsitz auf dem vorgezogenen Parteitag im Mai verzichtet und auch keinen Anspruch auf den Fraktionsvorsitz erhoben. Gegen Amtsinhaber Peter Hauk, der nach der bisherigen Machtarithmetik der gesetzte Rivale des amtierenden Ministerpräsidenten war, hatte Mappus allerdings dann seinen erklärten Schützling, die Umweltministerin Tanja Gönner in Stellung gebracht. Doch am Dienstag unterlag Gönner Hauk in einer Kampfabstimmung.

Heiß begehrt sind die raren Führungsposten in der Landtagsfraktion auch bei den Ministern und Staatssekretären, die bald ihre Schreibtische räumen müssen. Das könne die „personelle und inhaltliche Erneuerung“ lähmen, wenn alle ihre Karriere in der Fraktion fortsetzen wollte, heißt es mahnend. „Erneuerung“ bedeutet dabei auch in der Südwest-Union: Statt auf die gerupfte, halbierte und augenscheinlich dem Untergang geweihte FDP lieber nach links schielen und auf die Annäherung an die Grünen setzen, um wieder eine Machtperspektive zu erhalten. Die CDU brauche jetzt „weniger Mappus und mehr Röttgen“, zitiert ein Korrespondent Stimmen aus dem Lager jüngerer Funktionäre.

Die Versorgung der Ausscheider von der Regierungsbank dürfte allerdings nicht das größte Personalproblem für die CDU in Baden-Württemberg sein. Der Abschied von der Macht stellt ihr jahrzehntelang erfolgreich praktiziertes Klientelsystem in Frage, das sich die baden-württembergische Besonderheit zunutze macht, daß die von den Landtagsfraktionen eingestellten Berater zugleich als Landesbeamte geführt werden. Die Regierungspartei CDU nutzte dieses Instrument bisher, um den Parteinachwuchs nach kurzer Tätigkeit in der Fraktion als Durchlauferhitzer in der Landesverwaltung zu plazieren. Die Grünen als neue Regierungspartei werden es sich nicht nehmen lassen, nun ihrerseits diesen Schleichweg zur gründlichen Fortsetzung des Marschs durch die Institutionen zu beschreiten.

Einen kleinen Vorgeschmack auf die Mühsal des Regierens erhielten die grünen Wahlsieger schon am Wahl-
abend: Nach den „Mappschiedspartys“ der „Stuttgart 21“-Kritiker stürmten radikale Gegner des Bahnhofsumbaus in den Abendstunden die Baustellen. Das „Aktionsbündnis“, das vor allem im vergangenen Sommer und Herbst die Grundlage für den grünen Höhenflug legte, zerfällt und radikalisiert sich.

Geld kosten auch viele andere grün-rote Wahlversprechen, die etliche Wähler in der von Atomhysterie und Bahnhofsprotest aufgeheizten Wechselstimmung übersehen haben dürften. Bei der Beitragsfreiheit für Kindergärten und Kinderkrippen treten die Grünen zwar noch auf die Bremse. Das bedächtige und gemäßigt-differenzierte Auftreten des Spitzenkandidaten und demnächst ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann läßt gern vergessen, daß auch die baden-württembergischen Grünen scharf links stehen. Kretschmann selbst, der seine politische Karriere einst im maoistischen Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW) begann, bevor er zum Mitgründer der Südwest-Grünen wurde, mag sich gemäßigt und verbürgerlicht haben. Der Verdacht, der 62jährige, der sich im Wahlwerbefilm als etwas steif im Gärtchen werkelnder Opa filmen ließ, sei nur eine Übergangsfigur, hinter der strammere Ideologen wie der von klimaschützerischer Gängelung besessene Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (JF 12/11) nach vorne drängen, ist angesichts des links und multikulturalistisch geprägten Wahlprogramms dennoch mehr als eine von CDU-Chef Mappus gestreute Wahlkampffinte.

Unter dem Stichwort „längeres gemeinsames Lernen“ wollen die Grünen zum Beispiel eine zehnjährige Einheitsschule einführen, de facto also das in allen Vergleichstests Spitzenplätze einnehmende gegliederte baden-württembergische Schulsystem zerschlagen. Wirtschaftsfunktionären, die sonst den Machtwechsel in Stuttgart überwiegend gelassen zur Kenntnis nehmen, wird es bei solchen Vorhaben angst und bange um den Nachwuchs. Die Beschwichtiger, die abwiegeln, die neue Regierung werde mit Rücksicht auf die Mentalitäten im Lande behutsam vorgehen, könnten sich täuschen: Gerade der knappe Vorsprung könnte dazu ermuntern, so schnell wie möglich Fakten zu schaffen, die auch eine wieder an der Regierung beteiligte CDU nicht mehr ändern würde. Der Passus „dort, wo die Menschen das wollen“, heißt auch: Steter Tropfen höhlt den Stein.

Freuen über den grün-roten Regierungswechsel darf sich mit Sicherheit die Sozial- und Integrationsindustrie. Stimmenkönigin der Grünen ist die aus der Türkei stammende Stuttgarter Stadträtin Muhterem Aras, die mit 42,5 Prozent das Direktmandat in der Innenstadt holte – eines von neun, das die Grünen der CDU abgenommen haben. Auch der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stuttgarter Stadtrat Werner Wölfle, von Beruf Sozialarbeiter, wurde diesmal direkt in den Landtag gewählt. Wölfle, der im vergangenen Jahr bei der Wahl zum Stuttgarter Sozialbürgermeister an Abweichlern aus dem eigenen Lager scheiterte, wird jetzt für einen Ministerposten gehandelt.

Der SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid warb gezielt um die Stimmen eingebürgerter Türken, indem er seine türkische Ehefrau bewußt in den Vordergrund schob und sich in der türkischen Presse als „Schwager aller Türken“ feiern ließ. Sein Versprechen, seine Frau zur ersten türkischen „First Lady“ in Deutschland zu machen, scheiterte allerdings an der Dauerschwäche der ausgezehrten Südwest-SPD, die mit 23,1 Prozent das schlechteste Landtagswahlergebnis aller Zeiten einfuhr. Der pausbäckige Jubel der Sozialdemokraten in Bund und Land kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die SPD wie schon von 1992 bis 1996 in der großen Koalition wieder nur als Kellner die ersehnte Regierungsbeteiligung geschafft hat.

Schulpolitik, Öko-Gängelung und drohende Steuererhöhungen sind die wahrscheinlichsten Kritikpunkte, an denen sich bald genug Unmut über die neuen politischen Verhältnisse entzünden kann. Multikulturalismus und Migranten-Lobbyismus kommen als Angriffspunkte dazu. Daß die „bürgerlichen“ Oppositionsparteien diese nutzen, erscheint unwahrscheinlich; in der Union sind Debatten um den konservativen Markenkern tabu, nachdem Stefan Mappus mit einigen willkürlich herausgepickten Versatzstücken daraus gescheitert ist.

Die FDP wiederum ist in ihrem Stammland, in dem sie 1952 den ersten Ministerpräsidenten gestellt hatte, halbiert, gebeutelt und marginalisiert. Die Bürger werden indes bald genug zu spüren bekommen, was sie da gewählt haben: wenn Haus- und Grundeigentümer mit öko-dirigistischen Auflagen schikaniert werden, die Strompreise steigen, Abgaben angehoben werden und die schulpolitischen Experimente auf dem Rücken der Kinder beginnen. Vor allem im grün-roten Schul- und Bildungsprogramm für Baden-Württemberg steckt ein Widerstandspotential von hamburgischen Dimensionen.

 

Streitpunkt „Stuttgart 21“

SPD und Grünen könnte ihr Wahlversprechen, eine Volksabstimmung über den Weiterbau des Stuttgarter Tiefbahnhofs abzuhalten, noch leidtun. Die Bahn ist Grün-Rot mit einem vorläufigen Baustopp bis zur Regierungsbildung zwar etwas entgegengekommen, betont aber, daß die Verträge weiter gelten. Rechtlich wäre ein Landes-Volksentscheid laut dem Verfassungsrechtler Paul Kirchhof ohnehin bedeutungslos, weil „Stuttgart 21“ ein Bundesprojekt ist.

Steigt das Land trotzdem aus, wird es teuer; der Stuttgarter IHK-Präsident Herbert Müller rechnet mit Ausstiegskosten von bis zu zwei Milliarden Euro. Die notwendige Sanierung des Kopfbahnhofs unterbliebe dann wohl ebenfalls.

Streit in der grün-roten Koalition ist auch deswegen programmiert, weil viele SPD-Abgeordnete „Stuttgart 21“ nach wie vor unterstützen. Die Grünen dagegen plagt, daß sie die Geister, die sie riefen, nun nicht mehr loswerden. Für die Grünen-Funktionäre im „Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21“ hat der Zusammenschluß mit dem Erreichen aller Wahlziele seinen Zweck erfüllt; radikale Einpeitscher wie der „Parkschützer“-Sprecher Matthias von Herrmann wollen dagegen mit weiteren „Montags-Demonstrationen“ und Aktionen wie dem Sturm auf den Bauzaun in der Wahlnacht den Druck auch auf die neue Regierung aufrechterhalten.

Schon am Tag nach der Wahl begann das vor allem durch die Gegnerschaft zu Mappus zusammengehaltene „Aktionsbündnis“ auseinanderzubrechen. Daß die Grünen aus Wahlkampftaktik das Ergebnis des von ihnen angestoßenen „Schlichtungsverfahrens“ verworfen haben, könnte ihnen jetzt auf die Füße fallen: Wenn „Stuttgart 21“ aus finanziellen und rechtlichen Zwängen auch unter Grün-Rot weitergebaut werden muß, dürften die „Lügenpack!“-Sprechchöre bald auch jenen gelten, die sie eben noch selbst mit angestimmt haben.

Foto: Baden-Württembergs künftiger Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen): Das Wahlprogramm ist links und multikulturalistisch geprägt

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