© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Zart und gewaltig
Ein Äffchen mit dem Haupt eines Löwen: „Watercolour“ in der Tate Britain in London
Sebastian Hennig

Die Erfindung der Fotografie bedeutete für die Bildende Kunst keine Gefahr, sondern die einzigartige Gelegenheit einer Reinigung und Besinnung auf die spezifischen Qualitäten, die der reinen Malerei, abgesehen von ihrem Darstellungscharakter, innewohnen. Die Aufgabe der Vergegenwärtigung fremder und vergänglicher Zustände übernahm rasch das neue Lichtbild. Weder den Visionen eines William Blake noch der besonderen Stimmung auf Turners Landschaften vermochten sich die Erzeugnisse der Fotografie anzunähern. Diese hochartifiziellen Kunstleistungen ließen sich nicht technisch substituieren.

Den dokumentarischen Aspekt von Landschaftsschilderungen, Architekturprospekten und Portraitminiaturen aber bediente das neue Verfahren präzise, schnell und immer billiger. Die drei letzten Räume der großen Aquarell-Ausstellung, die derzeit in der Londoner Tate Gallery zu sehen ist, zeigen die genuinen Qualitäten eines Mediums, das einst die Kammermusik der Bildenden Kunst war, an dem die Fertigkeiten eines Malers unverstellt kundbar wurden und das heute fast völlig den Laien anheimgefallen ist.

Rachel Pedder-Smith, mit einem dekorativ-botanischen Blatt in der Ausstellung vertreten, sagte in einem Rundfunkgespräch der BBC wörtlich, daß die intensive Beschäftigung mit der leisen Aquarelltechnik für einen strebsamen Maler heute einem künstlerischen Selbstmord gleichkommt. Dementsprechend haben die Zeitgenossen, sofern sie nicht als Kleinmeister spezielle Nischen besetzen, wie die Pflanzenmaler und Kriegsberichterstatter, an Aquarellen nichts zu bieten, was der Großspurigkeit ihrer sonstigen Produktion gleichkäme.

So ist auch in der Tate Gallery von den großen Namen des Kunstmarktes entweder nur Ephemeres zu sehen, oder es werden riesige dreidimensionale Objekte oder pastose Acryl- und Temperamalerei unter „watercolour“ subsumiert, obgleich diese im Englischen eineindeutig nur die transparente Aquarellmalerei bezeichnet.

Erst im frühen 19. Jahrhundert wurde die Technik zu einem eigenständigen Genre, löste sich von der angefärbten Zeichnung und wurde Malerei im großen Stil. Die „Royal Society of Painters in Water Colours“ (SPWC) wurde 1804 gegründet. Ihre Ausstellungen wurden gestürmt und leergekauft. Neben Pferderennen und Segelregatten wurde der Agon des Pinsels wie ein neuer Nationalsport ausgefochten. So wie weiland Königin Victoria aquarelliert heute Prince Charles die Gefilde seiner Inselheimat. Und auch die ersten Kräfte der britischen Malergilde stellten die Ölfarben beiseite und stürmten an die vordersten Plätze der Rennbahn. Dem zarten Medium wurde Gewaltiges abverlangt.

Ein Prunkstück im Ausstellungsteil „The Exhibition Watercolour“ ist Samuel Palmers „Ein Traum im Apennin“. Ein fröhliches Landvolk umgeben von Ziegen an einem überladenen Erntewagen blickt hinab in die Ebene, wo Zypressenalleen und ein Viadukt auf die Kuppeln und Türme einer Stadt hinführen. Über die Szenerie wölbt sich ein abendlicher Himmel von zartem Grüngelb bis ins bläulich Violette spielend. Dieses Aquarell ist ein Gemälde im Ausmaß von 66 mal 100 Zentimeter, zart und gewaltig zugleich.

Einige Zentimeter größer noch ist William Turners Schlachtdarstellung auf einer Paßstraße im Aostatal; eigentlich ist es eine grandiose Landschaft mit Staffage. Das Blatt verarbeitet ein kurz zurückliegendes Kriegsgeschehen und könnte ebensogut in der Abteilung der Kriegsmaler hängen, zum Beispiel bei der im gleichen Jahr entstandenen Darstellung der Säbelwunde im Unterleib eines schnurrbärtigen Kriegers von der Hand des Wundarztes Charles Bell, der in der Instrumententasche immer auch ein Skizzenbuch mitführte. Ergebnis ist ein Aquarellzyklus über die in der Schlacht bei Waterloo zugefügten Verwundungen. Auf der Rückseite der Blätter vermerkte der Chirurg trocken seinen medizinischen Befund.

Ebenso vielsagend lakonisch ist „A Crashed Airplane“(1918) von John Singer Sargent: Zwei Bauern ernten und binden den Weizen, während im Hintergrund drei Männer das Wrack eines Militärflugzeuges an seiner Absturzstelle inspizieren.

Der 1946 geborene Gordon Rushmer ist einer der wenigen freischaffenden Kriegsmaler unserer Tage. Diagonale Rauchsäulen stehen über dem von kroatischer Artillerie beschossenen Dorf Gornji Vakuf. Die greulichen Porträts von Gesichtsverletzungen, die verschiedene Maler 1918 im Auftrag eines plastischen Chirurgen anfertigten, leiten über zu den naturkundlichen Bestandsaufnahmen. Der Fischadler in einer Felsenlandschaft von der Hand des schottischen Ornithologen William MacGillivray fand keinen Eingang in die berühmte fünfbändige Ausgabe „History of British Birds“ (1838–52). Der Makake mit Löwenmähne (1820) schließlich wirkt wie eine Allegorie auf die ambivalente Ausstellung.

Aber eine solche besteht immer auch aus den einzelnen Werken, die in ihr enthalten sind. Und da gibt es in jedem Raum Großartiges zu sehen. Das beginnt mit den Buchmalereien aus dem British Museum, einer sommerlichen Landschaft des van Dyck, auf der eine Baumgruppe von Masten und Takelage überragt wird, kolorierten alten Landkarten, Bildnisminiaturen auf Pergament und Elfenbein, geht über einige der besten Blätter von William Blake und Turners geheimnisvolle Notierungen atmosphärischer Phänomene in Luft und Wasser sowie zwei Skizzenbücher vom Beginn und aus der Reifezeit seines Schaffens bis zu den Präraffaeliten Holman Hunt, Burne-Jones, Rossetti und Ruskin. Die Schau präsentiert auch ein „Souvenir de Normandie“ (1859), welches Victor Hugo in seinem englischen Exil in Guernsey in Wasserfarben und Tinte auf das Papier brachte.

Die Künstler des Inselreiches, dessen Macht auf der Tragfähigkeit des Wassers gebaut war, haben in diesem auch das Lösungsmittel für einige ihrer schönsten Kunstwerke gefunden.

Die Ausstellung „Watercolour“ ist bis zum 21. August in der Londoner Tate Britain, Linbury Galleries, täglich von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 12,70 £, der Katalog 24,99 £. www.tate.org.uk

Fotos: Joseph Mallord William Turner, The Blue Rigi, Sunrise 1842: Der Engländer gilt als Vorläufer der französischen Impressionisten, Sehenswert: William Blake, The River of Life (1805); John Reeves Collection, Lion-haired macaque (1820); Edward Burra, Soldiers at Rye (1941)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen