© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Einsamer Rufer in der Wüste
Immer im Widerspruch zum Zeitgeist: Zum Tod des Staats- und Völkerrechtlers Karl Doehring
Thorben Schmidt

Woran es wohl gelegen hat, daß viele Rechtsgelehrte des 20. Jahrhunderts so alt geworden sind? Carl Schmitt, Karl Larenz, Theodor Maunz, Friedrich Schaffstein, Karl Michaelis, Reinhard Höhn, zuletzt der Heidelberger Staatsrechder Hans Schneider, 2010, mit 98 Jahren. Nun, am 24. März, wenige Tage nach seinem 92. Geburtstag, starb Schneiders langjähriger Kollege, der Staats- und Völkerrechtler Karl Doehring.

In der Alterskohorte 1919 sind Methusaleme wie Doehring die Ausnahme. Dafür hat der Zweite Weltkrieg gesorgt. Der kostete den Sohn eines Berliner Anwalts zehn „Landsknechtsjahre“ als Panzeroffizier in Erwin Rommels „Afrikakorps“ und als Kriegsgefangener, aber nicht das Leben. Doehring kehrte zurück mit dem Erfahrungshorizont aus dem „Zeitalter der Extreme“. Er studierte Jura, wurde 1957 promoviert und habilitierte sich 1962 mit einer Arbeit über „Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht“. Ab 1964 wissenschaftliches Mitglied des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht, war er von 1976 bis zu seiner Emeritierung 1987 Ordinarius für Staats- und Völkerrecht der Universität Heidelberg. Von 1981 bis 1985 hatte er den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht inne.

Wie Doehring in seinen 2008 veröffentlichten Lebenserinnerungen erzählt, die den Bogen von Versailles bis Maastricht spannen (JF 33/08), wäre seine intellektuelle Biographie, die „nachgeholte“ Karriere als Schüler Ernst Forsthoffs im Heidelberg der fünfziger Jahre, sein wissenschaftliches Profil, seine eigenständige Position unter den bundesdeutschen Staats- und Völkerrechtlern, ohne diese historischen Prägungen gar nicht zu verstehen. Unbegreiflich wäre sonst vor allem sein unirritierbares Festhalten an Staat und Nation. Als die Bonner Politik und das Gros seiner jüngeren Fachkollegen davon schon nichts mehr wissen wollten, trat Doehring unverdrossen für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen ein, beharrte darauf, die „deutsche Frage“ sei offen, so daß er die Wiedervereinigung von 1990 bei aller Dankbarkeit auch mit einem leisen Triumphgefühl erlebte.

Entsprechend alarmiert war er, als das Führungspersonal der neuerstandenen Berliner Republik die Weichen stellte, um Deutschland in einem europäischen Superstaat aufzulösen. Doehring ist als Emeritus nicht müde geworden, das fragwürdige Brüsseler Experiment kritisch zu kommentieren – als Verfasser rechtswissenschaftlicher Lehrbücher und Aufsätze wie als politischer Publizist. Mehr noch als seine kantigen Aufsätze im redaktionellen Teil der FAZ legen dort seine in schöner Regelmäßigkeit eingesandten, Leitartikel aufwiegende Leserbriefe Zeugnis ab von dem Willen, dem zu Tale rumpelnden Staatskarren in die Speichen zu greifen.

Pflöcke versuchte Doehring in der „Asylfrage“ und der Zuwanderungsdebatte einzuschlagen, ohne nachhaltigen Erfolg. In einem Aufsatz für diese Zeitung ging er im November 2009 der Frage nach, ob der moderne Staat noch der kulturellen Homogenität bedürfe („Nationalstaat und gesellschaftlicher Friede“, JF 47/09). Seine stringent begründete Antwort: „Das völkerrechtliche Prinzip, wonach der Fremde dem Recht des Aufenthaltsstaates unterworfen ist und es zu beachten hat, ist bis heute unbestritten, und so muß auch er sich der Wertauffassung, wie sie eine Staatsverfassung bestimmt, angleichen.“

Gegen die falsche Behauptung der Kohl-Regierung, die Russen hätten ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung vom Fortbestand der „Bodenreform“ in der Sowjetzone abhängig gemacht, meldete der Mitteldeutsche mit ostpreußischen Wurzeln früh Zweifel an. Noch in seiner Autobiographie belegte er dieses „Schurkenstück“ der „Staatshehlerei“ mit härtesten Ausdrücken der Verachtung.

Etwas sanfter im Ton, trotzdem hart in der Sache, thematisierte der besorgte Staatsrechtler, zuletzt auf dem ihm zu Ehren veranstalteten Kolloquium „seines“ Heidelberger Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (2009), den parteipolitischen Zugriff auf die Zusammensetzung des Bundesverfassungsgerichts. Von der den Karlsruher Verfassungshütern grundgesetzlich zugedachten Rolle eines „pouvoir neutre“, die Doehring schon in seinen ersten Publikationen problematisiert hatte (Der Staat, Heft 3, 1963), schien ihm heute nicht mehr viel übriggeblieben zu sein.

Wie weit sich die reale Verfaßtheit der Bundesrepublik und ihr verfassungsrechtlich-rechtswissenschaftlicher Überbau von Doehrings Verständnis von Staat, Nation und Volk entfernt hatte, kommt in seinem letzten, mitten in die „Sarrazin-Debatte“ hineinplatzenden, jugendlichen Kampfgeist und analytische Verve mischenden FAZ-Beitrag vom 23. September 2010 über die Unvereinbarkeit von Grundgesetz und Islam zum Ausdruck. Danach war die „Streitschrift“ des Islamverstehers Patrick Bahners („Die Panikmacher“) bereits vor dem Andruck Makulatur. Ob die Kollegen in Frankfurt am Main Doehring deswegen nur einen erstaunlich mickrigen, gerade einmal 54 Zeilen umfassenden Nachruf widmeten?

Auf dem Heidelberger Kolloquium zu seinem 90. Geburtstag würdigten Doehrings Schüler dessen „energische Entschlossenheit“ während der Studentenunruhen, gegen die „oft gewaltsame Intoleranz von Minderheiten und ein anpassungsbereites, ängstliches akademisches Milieu Stellung zu beziehen. Die Bereitschaft und Fähigkeit zur konsequenten Verfechtung eigener Positionen hat sich als Vorbild auch bei anderen Gelegenheiten erwiesen, in denen nachgeholter Widerstand unter den behaglichen Bedingungen des demokratischen Rechtsstaates, pseudo-staatsmännische ‘Korrektheit’ oder die Fiktion einer heilen Welt das Terrain für den Diskurs über Fakten und Rechtspositionen zu diktieren versuchen.“

Gewiß habe Schüler und Mentor ein „gemeinsamer Wertekanon“ verbunden, schrieb Matthias Herdegen, heute Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Vielleicht noch stärker gewirkt habe aber „eine preußische Variante intellektueller liberalitas“ (Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heft 2, 2009)

Doehring selbst wies stolz auf die sechs Habilitanden hin, die er betreut habe, die rasch einen „Ruf“ erhielten und heute selbst auf die Emeritierung zusteuern. Dazu kommen als Frucht langer Dozentenjahre viele Schüler, die ihn ihren „Doktorvater“ nennen dürfen. Eine „Schule“ hat der juristische Solitär in Heidelberg gleichwohl nicht begründet.

Es bleibt ein wissenschaftshistorisch noch aufzuhellendes Phänomen, wie so etwas möglich war, daß sich unter seiner Ägide im Max-Planck-Institut (1980–1989) eher eine „Anti-Doehring“-Schule formierte. Wie überall an westdeutschen Universitäten nach 1968 wuchsen in Heidelberg „weltoffene“, „kosmopolitische“, „universalistische“, also rundum weltfremde Provinzler heran. Einer seiner ältesten Schüler, Kay Hailbronner (seit 1979 Professor in Konstanz), Jahrgang 1943, von Doehring promoviert und habilitiert, sitzt seit 2000 im Beirat des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und ist seit Urzeiten Herausgeber der juristischen Plattform dezidierter Migrationisten, der Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik.

Säuerlich klingt es aus diesem Kreis, wenn es heißt, ihr Lehrer habe „gelegentlich“ im „Widerspruch zum Zeitgeist“ gestanden. Oder wenn einer von Doehrings Nachfolgern an der Institutsspitze, Rüdiger Wolfrum (Jahrgang 1941), den Meister verdruckst um Verständnis bat, ihm „nicht immer gefolgt“ zu sein. Richtig ist, daß der erratische Doehring dem Zeitgeist „immer“ widersprach und Völkerrechtler vom Schlage Wolfrums ihm „nie“ gefolgt sind. Entlassen aus dem weiten Weltbürgerkriegshorizont ihres Lehrers und Kollegen, figurieren in ihren Schriften Staat und Nation nur noch als metaphysische Gespenster.

Manche private Äußerung Doehrings zeugt davon, daß er diesen Bewußtseinswandel als verhängnisvoll für das Gemeinwesen beklagt und sich als einsamen Rufer in der Wüste empfunden hat. Bedauert hat er diesen Vaterlandsdienst auf vorgeschobenem Posten nie. Auf dem Heidelberger Kolloquium vor zwei Jahren verabschiedete er sich denn auch mit Edith Piaf: „Je ne regrette rien.“

Karl Doehring: Von der Weimarer Republik zur Euro-päischen Union. wjs Verlag, Berlin 2008, gebunden, 210 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

Foto: Karl Doehring: Erfahrungshorizont aus dem „Zeitalter der Extreme“

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