© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Der Glanz der alten Zeit
Albrecht Hannibal setzt in einem beeindruckenden Werk den preußischen Militärtraditionen ein Denkmal
Marcus Schmidt

Zwei Welten stoßen an diesem 13. Mai 1961 in der Brückberg-Kaserne in Siegburg aufeinander, als ein Greis in aufrechter Haltung die Front junger Rekruten abschreitet. Auf der einen Seite der hochdekorierte Repräsentant der längst untergegangenen Armee aus Kaisers Zeiten, auf der anderen Seite junge Soldaten der neugeschaffenen Bundeswehr, die ihren Karabiner nach dem alten preußischen Exerzierreglement präsentieren.

Als Siegfried Graf zu Eulenburg, letzter Kommandeur des Ersten Garde-Regiments zu Fuß der 1918 untergegangenen preußischen Armee wenige Monate vor seinem Tode die 2. Kompanie des neu aufgestellten Wachbataillons beim Bundesministerium für Verteidigung inspizierte, geschah etwas aus Sicht des heutigen Zeitgeistes Unerhörtes: Ein Truppenteil der Bundeswehr übernahm ganz offiziell die Tradition des vornehmsten preußischen Infanterieregiments und damit einer militärischen Einheit aus „vordemokratischer Zeit“. Noch erstaunlicher erscheint es angesichts der traditionsvernichtenden Säuberungen in der Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten, daß diese Traditionslinie bis heute Bestand hat und gepflegt wird.

Wie es dazu gekommen ist, wird in dem bemerkenswerten Werk „Semper Talis“ ausführlich dokumentiert. Doch ist dieser Abschnitt nur eine Episode in der 1.500 Seiten umfassenden monumentalen zweibändigen Chronik, die eingebettet in die historischen Zeitläufe die Geschichte des königlich-preußischen Ersten Garde-Regiments zu Fuß und seiner Nachfolgeeinheiten bis hin zum Wachbataillon nachzeichnet. Es zieht damit eine beeindruckende Linie von den legendären Langen Kerls des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. bis hin zu den Auftritten der „Garde“ der Bundeswehr bei Staatsbesuchen ausländischer Gäste in Berlin.

Mit „Semper Talis“ hat der Autor Albrecht Hannibal, ein Historiker aus Leidenschaft, der die Geschichte der preußischen Garderegimenter zu seinem Lebensthema gemacht hat, den lateinischen Schlachtruf des Ersten Garde-Regiments zu Fuß als Titel gewählt. Übersetzt bedeutet dieser Wahlspruch, der vom Wachbataillon übernommen worden ist, soviel wie „stets gleich“ oder „beständig“ und verweist damit auch auf die vielbeschworenen preußischen Tugenden wie etwa Disziplin und Pflichtbewußtsein. Denn Hannibal geht es um mehr als um eine Regimentsgeschichte und die Abfolge historischer Ereignisse. Er spürt dem besonderen Geist des preußischen Soldatentums nach, der sich seiner Meinung nach speziell im Ersten Garde-Regiment zu Fuß und seinen Nachfolgeeinheiten manifestierte.

Daß die militärische Tradition der preußischen Grenadiere mit ihren charakteristischen hohen Mützen überhaupt über die Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts in die Bundesrepublik hinübergerettet werden konnte, ist das Verdienst des Semper-Talis-Bundes. Diese heute noch bestehende Gemeinschaft wurde 1921 von ehemaligen Gardisten mit dem Ziel gegründet, die bis 1688 zurückreichende Tradition ihres untergegangenen Regimentes zu bewahren. Hannibal zeichnet daher auch die Geschichte dieses Bundes nach, der sich im Laufe der Jahrzehnten immer mehr zu einem der letzten Bewahrer preußischer militärischer Traditionen entwickelte. Nur so konnten diese nach 1945 und angesichts vollständiger Demilitarisierung bewahrt werden und nach der Gründung der Bundeswehr 1961 an das Wachbataillon weitergegeben werden. Wie eng die Verbindung des Semper-Talis-Bundes mit diesem auch heute noch ist, zeigt die Tatsache, daß der jeweilige Kommandeur des Bataillons dem Bund vorsteht.

Daß die Bundeswehr diese preußische Traditionsline des Wachbataillons nicht in Frage stellt, hat vermutlich einen einfachen Grund. Schließlich gehört auch das legendäre Infanterie-Regiment 9 der Reichswehr und der Wehrmacht, das aufgrund seines hohen Anteils an Adligen „Graf Neun“ genannt wurde, zu den Vorläufern des Wachbataillons. In diesem Regiment, das 1941 in den Kämpfen vor Moskau fast vollständig aufgerieben wurde, diente nicht nur der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Aus ihm gingen auch mehrere Widerstandskämpfer hervor wie etwa Henning von Tresckow und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, zwei der neben Claus Schenk Graf von Stauffenberg maßgeblichen Verschwörer des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944. Und auch ein späterer Bundeswehrgeneral diente in diesem Verbindungsglied zwischen Garderegiment und Wachbataillon: der Mitschöpfer des Prinzips der Inneren Führung der Bundeswehr, Wolf Graf Baudissin.

Hannibal, der 13 Jahre an dem vorliegenden Werk gearbeitet hat, ist 2008 noch vor dessen Fertigstellung verstorben. Mit viel Engagement hat seine Frau Ursula zusammen mit ihren Kindern und einigen Freunden die Herkulesaufgabe zu Ende geführt. Sie hat damit allen, die sich für die preußisch-deutsche Militärgeschichte und ihre Traditionen interessieren, eine schier unerschöpfliche Fundgrube zugänglich gemacht. Hannibal läßt alte Chroniken und Regimentsgeschichten sprechen und hält sich bis auf die Einleitung mit Wertungen zurück – ganz bewußt: „Der Preußenverachtung, die nach 1945 eingesetzt hat, kann man nur mit Fakten begegnen“, schreibt er in seinem Vorwort. Hunderte Abbildungen und bislang selten veröffentlichte Fotos illustrieren die Geschichte der Regimenter und ihrer Soldaten eindrucksvoll.

Die Semper-Talis-Chronik macht deutlich, aus welchen reichhaltigen militärischen Traditionen die Bundeswehr schöpfen kann, wenn sie nur darf. Welchen Eindruck solche Traditionen auf Soldaten machen, zeigen die Aufzeichnungen des Chefs der 2. Kompanie des Wachbataillons, Hauptmann Falkenstein, nach der Übergabe der Tradition durch Graf Eulenburg 1961: „Jeder einzelne war bewegt und ergriffen von der Persönlichkeit des alten Herrn, aus dessen Blick sie gespürt hatten, daß er nicht Nehmender, sondern als Gebender erschienen war, um den Geist seines alten Regiments – Semper talis – in sie hineinzupflanzen.“

Das Buch kann über die Witwe des Autors bezogen werden: Frau Ursula Hannibal, Siecum 16, 30966 Hemmingen

Albrecht Hannibal: Semper Talis. Brandenburg-preußisch-deutsche Geschichte. Eine Chronik. Zwei Bände. Verlag Monsenstein und Vannerdat, Münster 2009, gebunden, 1.496 Seiten, Abbildungen, 136 Euro

Foto: Graf Eulenburg bei der Übergabe der Tradition an das Wachbataillon (r.), „Langer Kerl“ : Über alle Brüche hinweg

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