© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Gruß aus Moskau
Kritische Blicke
Renault Olivier

Es ist schon erstaunlich. Im Gegensatz zu vielen Westeuropäern lassen sich die Russen von dem Krieg in Nordafrika, von der Dreifachkatastrophe in Japan oder von der Finanzkrise wenig irritieren. Die immer noch vorhandene starke Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die jedes Jahr von der ganzen Bevölkerung, von den Kindern bis zu den Großeltern zelebriert wird, sowie die Erinnerung an die schwere und unsichere Zeit der Perestroika, haben schon damals den Optimismus und den natürlichen Glauben an eine bessere Zukunft nicht erschüttert. Die Russen sind gut informiert und verurteilen diese unmenschlichen Ereignisse. Dabei sind sie – und hier besonders auf dem Land – entspannt, ruhig und denken positiv.

Während die Länder der Europäischen Union nun aber in einer tiefergreifenden Identitätskrise sind, ja eine Tradition nach der anderen über Bord werfen, behält Rußland eine Identität, die die Werte Europas in sich trägt. Es ist die Kraft der christlichen Religion, die hier die europäischen Sitten verbreitet und schützt.

Ich treffe einen orthodoxen Priester, der im Gespräch zusammenfaßt, was viele Russen über die EU, die Nato, über den Niedergang der Werte und über die kriegerischen Aktionen Europas denken. Noch vor kurzer Zeit lebte er in Europa. Doch schon als er sich in den Medien über das Weltgeschehen informieren wollte, stellte er entsetzt fest, daß sich alle Informationen ähneln. „Das ist die Welt der Political Correctness“ und „eine Art von Diktatur“ erklärt er und fügt unter Hinweis auf den Nato-Libyeneinsatz desillusioniert hinzu: „Plötzlich sind wir wieder die Bösen, die nicht mitmachen.“ Fast ganz Westeuropa führe im Namen von Demokratie und Menschenrechten einen Krieg und bezeichnet Rußland parallel dazu als undemokratisch und diktatorisch. Für den jungen Priester ist dies eine Farce.

Auch eine andere Erfahrung macht ihm zu schaffen. Ob in Paris, Berlin, London, Brüssel, ja selbst in kleineren Provinzstädten Europas verortete er eine Umwandlung der Bevölkerung. Er erzählt von vielen Kindern aus allen Regionen der Welt, den schweren Gängen durch die Straßen und den aufschlußreichen U-Bahnfahrten in schwarzer Soutane und schließt letztlich irritiert: „In meinem Priesterkleid sah ich die Blicke dieser neuen Westeuropäer mir gegenüber, als ob ich von einem anderen Planeten stammen würde.“

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