© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Unzulässiger Eingriff in die staatliche Souveränität
Militärintervention in Libyen: Diskussion um Dissonanzen mit dem Völkerrecht
Gerhard Vierfuss

Steht die Intervention europäischer, amerikanischer und arabischer Staaten in Libyen im Einklang mit dem Völkerrecht? Die Untersuchung dieser Frage muß drei Ebenen unterscheiden: die allgemeinen völkerrechtlichen Normen, die Resolution des UN-Sicherheitsrates und das tatsächliche militärische Handeln. Probleme lauern vor allem auf der zweiten und dritten Ebene: Auf der Ebene des Sicherheitsrates ist zu prüfen, ob die Resolution durch die völkerrechtlichen Regeln gedeckt ist; auf der tatsächlichen Ebene ist die Frage, ob die intervenierenden Staaten sich im Rahmen der Resolution halten.

Es geht um Resolution 1973 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die am 17. März mit zehn Ja-Stimmen bei fünf Enthaltungen – darunter die Stimmenthaltung von Deutschland – ohne Gegenstimmen verabschiedet wurde. Diese Resolution bezieht sich wiederum auf die am 26. Februar einstimmig verabschiedete Resolution 1970. Darin ist von „weitverbreiteten und systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung“ in Libyen die Rede, „die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen können“. Libyen wird zu einem sofortigen Ende der Gewalt aufgefordert.

In Resolution 1973 stellt der Sicherheitsrat nun fest, daß die libyschen Behörden die vorangegangene Resolution nicht befolgt hätten, und wiederholt seine Einschätzung bezüglich der Angriffe auf die Zivilbevölkerung; er erklärt weiter, die Situation in Libyen stelle „eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ dar. Er verlangt eine sofortige Waffenruhe und ein Ende der Gewalt gegen Zivilisten. Kernstück der Resolution ist die Festsetzung einer Flugverbotszone über Libyen, verbunden mit der Ermächtigung der Mitgliedstaaten, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen“, um „von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete“ zu schützen.

Diese Ermächtigung schließt nur eine denkbare Maßnahme ausdrücklich aus: die Stationierung von Besatzungstruppen. Alle anderen militärisch notwendigen Mittel zur Erreichung des genannten Zweckes sind mithin zulässig. Umstritten ist dennoch die Erlaubtheit von Waffenlieferungen an die Aufständischen. Dabei geht es um den Hinweis auf Ziffer 9 der Resolution 1970, die das Waffenembargo über Libyen aussprach. Die Formulierung in Resolution 1973 ist jedoch eindeutig: „(...) alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, ungeachtet der Ziffer 9 der Resolution 1970 (...)“ („notwithstanding paragraph 9 of resolution 1970“). Also: Waffenlieferungen sind zulässig.

Welches sind die völkerrechtlichen Normen, an denen diese Resolution zu messen ist? Sie selbst nennt als Ermächtigungsgrundlage Kapitel VII der UN-Charta, „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“. Eine dieser Voraussetzungen muß also vorliegen, und die Resolution selbst nennt, wie erwähnt, die „Bedrohung des Weltfriedens“. Was ist damit gemeint? Ursprünglich bezog sich diese Formulierung ausschließlich auf zwischenstaatliche Konflikte. Doch das Völkerrecht ist nicht starr; es entwickelt sich im Konsens der souveränen Staaten, das heißt vor allem durch internationale Abkommen und durch Resolutionen des Sicherheitsrates.

Die zunehmende Bedeutung der Menschenrechte, insbesondere durch die beiden Pakte von 1966, führte dazu, daß sich im Sicherheitsrat in den letzten zwanzig Jahren langsam die Praxis herausbildete, auch in Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen eine Bedrohung des Friedens anzunehmen und sich für zuständig zu erklären: etwa in den Resolutionen zu Somalia 1992 und zu Haiti 1994. Daß diese Praxis als Rechtsfortbildung inzwischen akzeptiert ist, zeigen gerade die Libyen-Resolutionen, die beide auf dieser Entwicklung beruhen und einmütig (1973) oder sogar einstimmig (1970) verabschiedet wurden. Soweit ersichtlich, wird sie auch in der gegenwärtigen Diskussion von niemandem grundsätzlich bestritten.

Die eigentliche Problematik besteht in der Frage, ob die Resolution 1973 sich an die so definierten Grenzen des Völkerrechts hält; hierüber besteht Streit. Kritiker wenden ein, die Resolution überdehne die Kompetenzen des Sicherheitsrates und stelle daher einen unzulässigen Eingriff in die Souveränität Libyens dar. Zwar verletze der libysche Staat tatsächlich die Menschenrechte seiner Bürger; diese Verletzungen erreichten jedoch nicht die Schwelle, die für ein Einschreiten des Sicherheitsrates überschritten werden müsse.

Eine Extremposition vertritt der Hamburger Strafrechtler und Rechtsphilosoph Reinhard Merkel. Die Resolution 1973 sei nicht einfach nur völkerrechtswidrig, vielmehr verletze sie die „Prinzipien, auf denen jedes Recht zwischen den Staaten beruht“. Zur Begründung bezieht er sich in einem Beitrag in der FAZ auf die Schrift „Zum ewigen Frieden“ von Immanuel Kant. Darin heißt es, die Intervention äußerer Mächte in einen Bürgerkrieg sei „eine Verletzung der Rechte eines nur mit seiner inneren Krankheit ringenden, von keinem andern abhängigen Volks“, ein „Skandal“, der „die Autonomie aller Staaten unsicher“ mache.

Merkels Argumentation hängt jedoch an seinen tatsächlichen Voraussetzungen: Er geht davon aus, daß es sich in Libyen ausschließlich um einen Bürgerkrieg, also um einen von beiden Seiten militärisch ausgetragenen Konflikt handle und vom Beginn der Auseinandersetzungen an nur darum gehandelt habe. Die Formulierung der UN-Resolution, es gehe ausschließlich um den Schutz der Zivilbevölkerung, sei „von Anfang an nichts anderes gewesen als eine rhetorische Geste an die Adresse des Völkerrechts“.

Indessen gibt es zahlreiche glaubhafte Zeugnisse sowohl dafür, daß die Proteste in Libyen, genauso wie in den anderen arabischen Ländern, friedlich begannen, als auch dafür, daß die libysche Führung diese friedlichen Proteste mit massiven militärischen Mitteln, darunter Kampfflugzeuge, bekämpfte. Trotzdem lassen sich Gründe finden, an der Rechtmäßigkeit der Resolution zu zweifeln: Denn zum Zeitpunkt der Verabschiedung handelte es sich möglicherweise tatsächlich nur noch um einen Bürgerkrieg, und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die verhindert werden sollten, waren bereits geschehen.

Schwerer wiegen die Zweifel hinsichtlich der militärischen Durchführung.  Die politischen Ziele einiger der beteiligten Länder beschränken sich nicht auf die in der Resolution genannten; offen ist von der Notwendigkeit die Rede, Gaddafi zu beseitigen. Die militärischen Maßnahmen scheinen dieser Maxime zu entsprechen: Luftschläge gegen Gaddafis Truppen ermöglichen den Vormarsch der Aufständischen (oder, wie sie sich selbst nennen, der Revolutionäre). Deren unerwartete militärische Schwäche machte einen Strich durch ihre eigene und die Rechnung ihrer Sympathisanten, ein Ausschalten der libyschen Luftwaffe werde für ihren Sieg ausreichen.

Am Ende könnten der Sicherheitsrat und die Interventionisten sich in einer Situation wiederfinden, aus der ein politisch und völkerrechtlich sauberer Ausweg nicht möglich ist.

Foto: Kriegswirren in Libyens Wüste: Für die einen handelt es sich um einen Bürgerkrieg, für die anderen ist es der Terror des Gaddafi-Regimes gegen die Bevölkerung

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