© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Am Ausweglosen herumbasteln
Moderner Nihilismus: Vor hundert Jahren wurde der Essayist und Aphoristiker Emil Cioran geboren
Martin Lichtmesz

Nun ist also derjenige gekommen, den wir erwarteten, der Prophet der Zeiten der Konzentrationslager und des kollektiven Suizids, derjenige, dessen Ankunft alle Philosophen des Nichts und des Absurden vorbereiteten, der Überbringer par excellence der schlechten Nachricht.“

In diesem hymnischen Tonfall begrüßte Maurice Nadeau 1949 den Autor eines Buches mit dem Titel „Lehre vom Zerfall“, einen bis dato unbekannten rumänischen Schriftsteller namens Emil Cioran, der seit 1937 in Paris gelebt und nun sein erstes Werk in französischer Sprache veröffentlicht hatte. Das „Image“ Ciorans als radikalster Verkünder des modernen Nihilismus hat sich seither nicht gewandelt, und seine glühendsten Fans sind bis heute nicht gerade die Nüchternen und Ausgeglichenen.

Wer zu seinen Büchern greift, hat starken Tobak nötig, weil er sich vielleicht selbst in jene Sackgassen des Denkens verirrt hat, in denen die tausend Messer des Geistes auf das eigene Herz zielen. Schon Ciorans rumänisches Debüt trug den Titel „Auf den Gipfeln der Verzweiflung“, als sein Autor gerade eben 23 Jahre alt war. Von da an ging es stetig bergab, oder, je nach Perspektive, bergauf, zu noch sauerstoffärmeren Gipfeln der seelischen Qual.

Geboren am 8. April 1911 im siebenbürgischen Rășinari, am Rande des späten austro-ungarischen Reiches, verlebte Cioran als Sohn eines orthodoxen Popen eine glückliche Kindheit, die er später als sein „goldenes Zeitalter“ verklärte, dem wie bei dem biblischen Ur-Menschenpaar der „Sturz in die Zeit“ folgte.

Bereits im Alter von 17 Jahren war Cioran besessen vom Gedanken an Tod und Selbstmord, was zum Stachel einer gierigen Lesewut wurde, die ihn freilich auch keine Antworten auf die bohrende Frage nach Sein und Nichtsein finden ließ. Zeitlebens litt er an einer chronischen Schlaflosigkeit, die ihm eines seiner Hauptthemen vorgab: das „Bewußtsein als Verhängnis“ (Alfred Seidel), der „Geist als Widersacher der Seele“ (Ludwig Klages), der Fluch der unfreiwilligen Luzidität, deren grausamer Blick alle Illusionen des Menschen über seine Lage im Universum in Stücke reißt.

Ein Nihilist im Sinne Ciorans ist nicht unbedingt einer, der sich einem morbiden Geschmack am Abgrund verschrieben hat, sondern eher jemand, der nicht imstande ist, an eine Sinnhaftigkeit des Lebens zu glauben, handele es sich um ein metaphysisches Versprechen oder um eine weltliche Utopie. In Umkehrung des Neuen Testaments: Nicht die Wahrheit, sondern die Lüge wird euch frei machen. Diese Freiheit ist aber eine Illusion, die sich früher oder später erledigt haben wird: „Der letzte Akt ist blutig, mag die Komödie im übrigen auch schön sein: man wirft zuletzt etwas Erde auf den Kopf – dann ist’s für immer aus“ (Blaise Pascal). Gleichzeitig hört der Mensch aber nie auf, sinnstiftende Illusionen zu produzieren. Diese wachsen nach wie Hydraköpfe, hemmen den Sog des Nichts, sperren ihn in die Folterkammer der Widersprüche seiner Existenz.

In einem anderen Jahrhundert hätte Ciorans Temperament ihn vielleicht zum leidenschaftlichen Mystiker oder Wüstenheiligen gemacht. Im Grunde seines Herzens war er jedoch unfähig zu glauben, und seine philosophischen Exzesse waren oft Versuche, das verfluchte, hartnäckig skeptische und zersetzende Bewußtsein durch innere Exaltationen hinwegzuspülen.

Ciorans berüchtigte „faschistische“ Periode der dreißiger Jahre kann nur vor diesem Hintergrund verstanden werden. Wie viele rumänische Intellektuelle dieser Zeit entwickelte er starke Sympathien für die „Eiserne Garde“, eine radikal nationalistische, antisemitische und von einem seltsam verstandenen Christentum geprägte Bewegung unter der Führung des charismatischen Corneliu Codreanu. Dessen mohammedanisch fanatischer Glaube muß Cioran als absolutes Gegenbild seiner selbst fasziniert haben.

Nicht anders erging es ihm mit dem Nationalsozialismus, den er als Student an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität von 1933 bis 1935 hautnah miterlebt hatte und den er als vitalistischen „Irrationalismus“ feierte, der aus der Falle des dekadenten Zweifels hinausführen könnte. Später verwarf er diese Parteinahme als pathologische Episode, als Akt der Selbsthypnose, in dem er sich zu einem Glauben zwingen wollte, den er im Innersten nicht annehmen konnte.

Ernüchtert vom politischen Radikalismus wurde Cioran nach dem Krieg zum fanatischen Antifanatiker und beißenden Kritiker aller Ideologien, die das Paradies auf Erden versprechen. Er blieb für den Rest seines Lebens ein Exilant, ein auch metaphysisch Unbehauster, ein „Mensch, für den es auf der Erde keine Heimat gibt“, der in einer fremden Sprache schrieb, die er mit einer unvergleichlichen Virtuosität handzuhaben wußte.

Für Cioran war das Schreiben eine Lebensnotwendigkeit, ein stetiger, sisyphosartiger Abwehrkampf gegen den Alpdruck der Gedanken. Er verabscheute die systematische Philosophie, zog die Momentaufnahme, den Essay, den Aphorismus vor. „Stilmodelle: der Fluch, das Telegramm, die Grabinschrift“. Titel wie „Syllogismen der Bitterkeit“, „Vom Nachteil, geboren zu sein“ und „Die verfehlte Schöpfung“ sprechen für sich. Seine Übertreibungen erreichen dabei oft einen Aberwitz, der mitunter eine paradoxe Wirkung entfalten kann: „Gerade der Gedanke, daß ich mein Leben beenden kann, hilft mir, am Leben zu bleiben.“ Die Lektüre Ciorans vermag die Gesunden zu vergiften, den Kranken aber zu helfen, frei nach dem Motto der Homöopathie „Gleiches mit Gleichem“ zu heilen.

Emil Cioran, ein Schopenhauer und Diogenes des 20. Jahrhunderts, der bis zuletzt eine bescheidene Mansardenwohnung im Pariser Quartier Latin bewohnte, ein „Parvenü der Neurose, ein Hiob auf der Suche nach einer Lepra, ein Dreigroschenbuddha, ein schlapper Skythe, der sich verrannt hat“ (Cioran über sich), starb 1995 im Alter von 84 Jahren, nicht von eigener Hand, wie er es ein Leben lang empfohlen hatte, sondern eines natürlichen Todes.

Zuletzt war sein peinigendes Bewußtsein vom Alzheimer zerstört worden, eine finale Ironie des Schicksals, die er vielleicht noch in seinen letzten wachen Momenten genossen hat, ja als Erlösung begrüßt haben mag.

Foto: Emil Cioran (1982): Das Schreiben war für ihn eine Lebensnotwendigkeit, ein stetiger Abwehrkampf gegen den Alpdruck der Gedanken

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