© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Sentimentalität auf Kosten der Katastrophe
Anne Frank und die „zweite Schuld“
(wm)

Es fehle eigentlich nur noch „Anne Frank on Ice“. Was Ian Buruma 1998 angesichts des in sechzig Sprachen übersetzten „Tagebuchs“ der jüdischen Jugendlichen befürchtete, scheine heute nicht mehr ausgeschlossen, meint sein Historikerkollege Stephan Scholz (Uni Oldenburg). Hat der „Erinnerungskitsch“ doch inzwischen dank japanischer Zeichentrickfilme oder spanischer „Anne-Frank-Musicals“ immer neue Tiefstände der Banalisierung ausgelotet. Merkwürdig nur, so Scholz, daß diese märchenhafte mediale Resonanz des Frank-Diariums mit fast 700.000 verkauften Exemplaren schon zu Adenauers Zeiten zu registrieren ist. Dabei umweht die frühe Bundesrepublik doch der Nimbus der „zweiten Schuld“ mangelhafter NS-Aufarbeitung. „Konservative Intellektuelle“ sähen hierin einen Beleg für die „früh gelingende Vergangenheitsbewältigung“. Scholz interpretiert den frühen Publikumserfolg jedoch völlig anders (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1-2/2011). Gestützt auf Zeitgenossen wie Hannah Arendt glaubt er, die Fixierung auf ein Einzelschicksal diente nur der „Ausblendung des Holocaust“, bot „billige Sentimenalität auf Kosten der großen Katastrophe“ (Arendt). Ebenso ermöglichte es die Universalisierung eines Opferschicksals, die „Nazi-Zeit nicht als spezifisch Deutsches“ zu betrachten. Die Anne-Frank-Konjunktur sei damit nur ein Teil der Bewältigung durch Verdrängung. www.friedrich-verlag.de

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