© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Der Verbindungsoffizier des Widerstands
Antje Vollmers beachtenswerte Doppelbiographie Heinrich und Gottliebe Lehndorffs
Magnus Huber

Antje Vollmer, Politikerin der Grünen, Theologin, in den 1970ern promoviert mit einer damals recht zeitgeistigen Arbeit über „Religiöse Sozialisten“, ist es nicht an der Wiege gesungen worden, sich einmal als Historikerin des „Widerstands gegen Hitler“ zu profilieren. Als tief „im Westen“ verwurzelte Galionsfigur der altlinken Bonner Kultur scheint sie auch nicht prädestiniert ausgerechnet zur Biographin Heinrich Lehndorffs, eines Mitverschwörers von Stauffenberg, der als ostpreußischer Adliger, Agrarier und Offizier so ziemlich alles in sich vereint, was in Vollmers Milieu gewöhnlich Phobien provoziert.

Trotzdem muß man der Autorin zugestehen, die ihr ursprünglich so fremde Materie gemeistert und dem kurzen Leben „Heini“ Lehndorffs (1909–1944)erstmals scharfe Konturen verliehen zu haben. Denn in der Literatur zum 20. Juli 1944 taucht der Herr des imponierenden Besitzes Steinort am masurischen Mauersee nur schemenhaft als Randfigur auf. Etwas an Farbe gewann er lediglich in den Erinnerungen seines Vetters Hans Graf Lehndorff sowie bei Marion Gräfin Dönhoff, die ihren Schwager als verwegenen Burschen porträtierte, dem es nach dem gescheiterten Attentat zweimal kurzzeitig gelang, der Gestapo zu entkommen.

Seine eigentliche Bedeutung, wie sie jetzt bei Vollmer hervortritt, als Verbindungsoffizier des Widerstands, zwischen dem Verschwörerkreis um Henning von Tresckow in der Heeresgruppe Mitte und den Umsturzplanern im Berliner Bendlerblock, zudem als designierter Königsberger Evaluierer der NS-Herrschaft im ostpreußischen Wehrkreis I, dazu die Funktion Steinorts als „Kontaktzentrale“ der Anti-Hitler-Fronde, dies alles lag bisher doch ziemlich im Nebel der Vergangenheit.

Dank der erstmals von ihr ausgewerteten Familienarchive Dönhoff und Lehndorff, dank auch manch glücklicher Funde, so im Schularchiv des sächsischen Internats Roßleben, konnte Vollmer sich bei ihrem Unternehmen auf eine – angesichts der großen Kriegsverluste – noch erstaunlich breite Quellenbasis stützen, zu der auch zahlreiche Schnappschüsse vom „überirdisch schönen“ Gutsleben auf Steinort zählen, die ihren Text illustrieren. In den Mittelpunkt dieser friedsam-privaten Kapitel stellt Vollmer die Beziehung zu Gottliebe Gräfin Kalnein (1913–1993), die Lehndorff 1937 ehelicht. Wie diese beiden Kinder altpreußischer Adelsgeschlechter dann spätestens mit Kriegsbeginn 1939 fast selbstverständlich in den Kreis der militärischen Opposition gegen das NS-Regime eintraten, vergegenwärtigt Vollmer mit größter Intensität. Vor allem die spannungsreichen Tage unmittelbar vor und nach Stauffenbergs Bombenattentat im Führerhauptquartier „Wolfsschanze“, das nur wenige Kilometer von Steinort entfernt lag, sind ein Muster an dichter Beschreibung, die die Autorin, gestützt auf die Aufzeichnungen Gottliebe Lehndorffs, dann noch fortsetzen kann bis zur Verhandlung vor dem Volksgerichtshof und zur Vollstreckung des Todesurteils am 4. September 1944.

In dem erstmals veröffentlichten, fast zehnseitigen Abschiedsbrief Lehndorffs, „geschrieben in der Gewißheit einer unzerstörbaren Gemeinschaft“, gestattet sie dann abermals intime Einblicke in das „Doppelleben“ des gräflichen Paares und die sie tragenden Mächte. Mit dem Abdruck dieses Briefes, einem der ergreifendsten Dokumente unter den Hinterlassenschaften des Widerstands, gelingt es Vollmer wohl am überzeugendsten, das vom Volksgerichtshof, den Westalliierten und den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften in trauter Eintracht gepflegte Klischee vom moralisch fragwürdigen Aufstand „preußischer Junker“ gegen Hitlers Herrschaft zu revidieren.

Sie veranschaulicht damit zugleich ihre, für eine Grünen-Politikerin überaus kühne, das Selbstverständnis der Bundesrepublik als der besten aller möglichen deutschen Welten regelrecht untermininierende Erkenntnis, das „Konstrukt“ vom Widerstand, wie jedes andere Konstrukt deutscher Geschichte bis 1945, sei nur ein „Instrument“, um „der Gegenwart eine Berechtigung zu verleihen, die sie aus eigener Kraft und eigenen Gründen nicht zu behaupten wagt“. Darum habe man in der Bundesrepublik und in der DDR den „vollständigen Bruch mit allem, was einmal war“, vollzogen. Mit der Folge, daß, wie es ein Stipendiat der Axel Springer Stiftung, der jüdische Journalist Simon Akam kürzlich eher verharmlosend formulierte, „die größte Errungenschaft der Politik im Nachkriegsdeutschland die Langeweile ist“ (Die Welt vom 22. August 2010).

Die von Vollmer manchmal mit ungläubigem Staunen entdeckte Welt jenseits dieser bundesdeutsche Tristesse abschirmenden „Konstrukte“, eben jene von ihr als „versunkener Kontinent“ empfundene Vergangenheit, die eine allen Nachkriegsgegenwarten überlegene Existenzform anzubieten scheint, wird  im Verlauf ihrer ausladenden Darstellung allerdings immer wieder verdeckt durch ellenlange Referate des zeithistorisch Bekannten. Zu viel Raum nimmt die Geschichte der Führerhauptquartiere und der Attentatsversuche auf Adolf Hitler ein, den die Autorin überaus unterkomplex notorisch als „Wahnsinnigen“ präsentiert.

Nur einschlägige Literatur zu Joachim von Ribbentrop repetierend, ufert das Kapitel über den Reichsaußenminister aus, der 1941, nach Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion, in einem Flügel von Schloß Steinort sein „Feldquartier“ aufschlug. In welcher Form die Lehndorffs gegen diesen ungebetenen Gast „Widerstand“ leisteten, wie Vollmers Untertitel verheißt, bleibt zudem unklar. Ihre zeitgeschichtliche Weitschweifigkeit geht natürlich auch ein hohes Fehlerrisiko ein, mit unglücklichen Folgen. So wenn sie etwa die polnische Annexion Pommerns als Folge von Versailles vordatiert. Oder, ebenso anachronistisch, wenn sie behauptet, schon 1938 hätten die oppositionellen Militärs die „Vernichtung der europäischen Juden“ verhindern wollen.

Kilian Heck, der im Anhang eine so knappe wie präzise Geschichte des 2010 einer Ruine gleichenden Schlosses beisteuert, eifert Vollmer leider nach, wenn er von einer polnischen neben einer deutschen und europäischen Geschichte fabuliert, für die Steinort als Symbol wiedererstehen möge. Eine „polnische Geschichte“ hat Steinort nämlich nur insoweit, wie Heck die Zustände nach der Warschauer Landnahme im südlichen Ostpreußen meinen sollte, die vom Zerfall dieser einst herrlichen Anlage am Mauersee und dem Untergang unzähliger Baudenkmale nicht nur im Kreis Angerburg gekennzeichnet sind.

Antje Vollmer: Doppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010, gebunden, 415 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

Foto: Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort 1936 (Mitte), Reichsaußenminister von Ribbentrop besucht die Lehndorffs in Ostpreußen (o.l. und u.r.), Schloß Steinort (o.r.), Gottliebe von Lehndorff (u.l.): „Kontaktzentrale“ der Anti-Hitler-Verschwörer unweit des Führerhauptquartiers

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen