© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Osmanische Renaissance
Türkei: Auf dem Weg zur regionalen Großmacht / Knallharte Interessenpolitik zwischen Balkan, Kaukasus und Nahem Osten
Michael Wiesberg

Daß von der Türkei nach jahrzehntelanger „Westbindung“ seit geraumer Zeit politisch Eigensinn ausgeht, zeigt nicht zuletzt deren Rolle in der laufenden „humanitären Intervention“ in Libyen. Offensichtlich bemühte sich Ankara hinter den Kulissen um eine eigene Lösung, die laut der französischen Nachrichtenagentur AFP einen friedlichen Übergang zur Demokratie in Libyen zum Ziel hatte. Gaddafi sollte, so schlugen die türkischen Vermittler unter anderem vor, eine eigene Partei gründen und sich dann freien, international überwachten Wahlen stellen. Offenbar waren die Gespräche bereits weiter vorangeschritten, als ihnen von der „Koalition der Willigen“ mittels Luftschlägen die Grundlage entzogen wurde. Die Türken befürchten nun eine „Irakisierung“ des Libyen-Konflikts, sollte Gaddafi seinen Kampf fortsetzen. Abdullah Gül, der türkische Staatspräsident, mutmaßte, Libyen könnte auseinanderfallen. Und für den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan steht fest, daß es Europäern und US-Amerikanern sowieso nur um das libysche Erdöl ginge; er wirft ihnen vor, einen „Kreuzzug“ zu führen.

Das sind Aussagen, die vor ein paar Jahren, als die Türkei noch als verläßliches Nato-Mitglied galt, gute Beziehungen mit Israel pflegte und als heißer EU-Beitrittskandidat galt, undenkbar gewesen wären. Diese Zeiten indes sind vorbei, seit die Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) die türkische Außenpolitik auf eine neue Grundlage gestellt hat. Die „Westbindung“ ist einer Art Politik der Multioptionalität gewichen; sie wird von ihrem geistigen Schöpfer, dem amtierenden türkischen Außenminister Ahmet Davutoğlu, als Politik der „strategischen Tiefe“ umschrieben. Zu dieser Rolle gehört unter anderem, daß sich die Türkei mehr und mehr in der Rolle eines Vermittlers zwischen dem Westen und der islamischen Welt sieht. Dazu gehören aus Sicht der Türken auch gute Beziehungen zu Staaten oder Gruppierungen, die aus westlicher Sicht eher in die Kategorie „Schurkenstaaten“ fallen.

In gewisser Weise stellt das außenpolitische Konzept Davutoğlus auch den Versuch dar, das historische, geographische, religiöse und kulturelle Erbe des  Osmanischen Reiches fruchtbar zu machen, was von Beobachtern der türkischen Außenpolitik gerne mit dem Schlagwort „Neo-Osmanismus“ belegt wird. Diese Charakterisierung hat durchaus etwas für sich, gibt es in der Türkei doch seit längerem Anzeichen für eine Rückbesinnung auf die Zeit des Osmanischen Reiches, für die das Magazin Zenith. Zeitschrift für den Orient (1/2011) die griffige Formulierung „Rückkehr der Paschas“ fand. Was heutige Türken mit dieser Zeit verbinden, ist indes höchst unterschiedlich. Das reicht, so Selcuk Aksin Semel in einem Beitrag, von der Verklärung der Osmanen als Quasi-„Heilige“ über deren Abqualifizierung als „primitiv“, „reaktionär“ bis hin zur Preisung der Sultane als „gerecht“, „tugendhaft“ oder „prächtig“. Für die junge Generation verbinde sich mit dem Osmanischen Reich vor allem die „Suche nach einem authentischen Lebensstil im Umfeld der westlich geprägten, globalen Kulturhegemonie unserer Zeit“.

Der außenpolitische Chef-Ideologe Davutoğlu sieht die heutige Türkei sowohl als Teil des Balkans als auch der Kaspischen Region, als Teil der Schwarzmeerregion und des östlichen Mittelmeers sowie als Teil des Nahen und Mittleren Ostens und auch Europas. Dieser Lagebestimmung folgen konkrete Schritte, wie zum Beispiel auf dem Westbalkan, wo die Bosniaken, die sich als Teil des Erbes des Osmanischen Reiches begreifen, eine Art Brückenkopf im Hinblick auf die Ausdehnung des türkischen Einflusses auf dem Balkan bilden.

Die „osmanische Renaissance“ auf dem Balkan, die Davutoğlu zu initiieren versucht, hat ein konkretes Ziel: Vom Westbalkan über den Kaukasus bis zum Nahen Osten soll, so Dušan Reljić, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), in einem Papier („Die Türkei weckt alte Lieben und Freundschaften  im Westbalkan“, SWP-Aktuell 69), ein „Zentrum der Weltpolitik“ entstehen, dessen Mittelpunkt die Türkei darstellt.

Dieses türkische Ausgreifen bleibt allerdings nicht ohne Widerstand, so zum Beispiel im serbischen Teil Bosniens, wo die „imperialen Absichten“ Ankaras scharf kritisiert werden. Inwieweit die türkischen Visionen Widerhall finden werden, dürfte auch davon abhängen, welche Perspektiven die EU den Westbalkanstaaten eröffnet. Sollten deren Beitrittswünsche nicht erwidert werden, könnte die Türkei hier einen entsprechenden Resonanzboden für ihre weitgesteckten Ambitionen finden.

Stichwort EU: Zweifelsohne ist die Neuorientierung der türkischen Außenpolitik auch eine Reaktion auf die zum Stillstand gekommenen Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. In US-amerikanischen Botschaftsdepeschen, die via Wikileaks bekanntgeworden sind, wird überdies gemutmaßt, daß Erdoğan, dem „Volkstribun aus Anatolien“, der Beifall der muslimischen Welt wichtiger sei als die Beziehungen zum Westen. Die Türkei, so die Einschätzung der US-Diplomaten, wolle sich als orientalische Führungsmacht etablieren und kooperiere dafür auch mit zweifelhaften Partnern wie zum Beispiel dem Iran, den der Westen als Bedrohung seiner Sicherheit ansieht.

Türkische Politiker indes bestreiten, daß mit der Politik der „strategischen Tiefe“ eine Abwendung vom Westen verbunden sei. Richtig sei aber, daß sich die Türkei nicht mehr als Staat an der Peripherie der Nato begreife, sondern als „Zentrum einer ‘eigenen Region’“, für „deren Ordnung Ankara eine politische (Mit-)Verantwortung zu übernehmen habe“. So drückte es Heinz Kramer, wissenschaftlicher Mitarbeiter der SWP-Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen, in einer Analyse aus (SWP-Aktuell 25/2010). Leitziel der türkischen Außenpolitik im Hinblick auf diese Region sei, so Kramer, die Schaffung von „Stabilität und Wohlstand“ durch „größere Kooperation“, die auch den Sicherheitsinteressen der beteiligten Staaten Rechnung trage. Dieses Leitziel sei im Geist der Politik „Null Probleme mit den Nachbarn“ zu verfolgen, wozu auch eine konstruktive Bewältigung der zahlreichen Konflikte der Region gehöre. Um diese Ziele zu erreichen, bedürfe es einer gewissen Neutralität der Türkei, um zwischen den Partnern im Sinne einer  „rhythmischen Diplomatie“, die in allen multi- und bilateralen Beziehungen zu entfalten sei, vermitteln zu können.

Die „Politik der strategischen Tiefe“ hat einen handfesten Hintergrund, die mit der Industrialisierung der Türkei, die in den letzten Jahren erheblich an Fahrt gewonnen hat, in Zusammenhang steht. Die Türkei, die mittlerweile zu den 20 größten Wirtschaftsmächten weltweit zählt, braucht Absatzmärkte, und hier bieten sich unter anderem die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens an, die zum Teil wenig industrialisiert sind. Gute außenpolitische Beziehungen sind ein Mittel, diese Absatzmärkte entsprechend zu bearbeiten.

Die neue Flexibilität der türkischen Außenpolitik wird indes nicht nur im Westen kritisch kommentiert, sie sorgt auch in der Türkei selbst für Uneinigkeit. So berichtete der türkische Politologe Doğu Ergil in einem Kommentar auf den Internetseiten der englischsprachigen türkischen Zeitung Today’ s Zaman, daß die Wikileaks-Depeschen auf drei rivalisierende Gruppierungen im türkischen Generalstab schließen ließen: Eine Gruppe, „Atlantiker“ genannt, favorisiere die Nato und die Allianz mit den USA. Eine andere Gruppe stehe dieser Allianz ablehnend gegenüber, weil den USA unterstellt werde, daß sie die Gründung eines Kurdenstaates im Norden des Irak unterstützen könnten. Sie wendeten sich als gestandene Nationalisten überdies gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU und seien bereit, das kemalistische Staatsmodell – in dessen Mittelpunkt die Trennung von Staat und Religion steht – mit allen Mitteln zu verteidigen. Eine dritte, antiwestliche Gruppe setze auf eine „eurasische Allianz“ mit Rußland, dem Iran, China und der Türkei.

Die Fraktionen innerhalb des türkischen Generalstabs stehen pars pro toto für die Optionen, vor denen die Türkei steht. Geht der Weg als Ausdruck eines islamisch-politischen Widerstands gegen die westliche Hegemonie in eine eher islamistische Richtung oder in Richtung eines eher aufklärerisch-demokratischen Leitbildes, das islamisch kontextualisiert ist? Die Antwort darauf wird möglicherweise auch, das macht Heinz Kramer deutlich, von der EU abhängen, die sich intensiver mit ihrem Verhältnis zur Türkei beschäftigen sollte, die man „außen- und sicherheitspolitisch nicht einfach ignorieren“ könne. Auch die von der AKP regierte Türkei sei als „strategischer Partner“ der „europäischen Sicherheitsstrategie“ zu behandeln.

Das gilt auch dann, wenn die neu konzeptionierte türkische Außenpolitik von den Entwicklungen im arabischen Raum ganz offensichtlich überrascht worden ist. Wichtige Partner wie zum Beispiel der syrische Staatschef Baschar al-Assad, dessen Herrschaft auf der Kippe steht, drohen von den Umbrüchen in der arabischen Welt weggespült zu werden. Gerade das Syrien Assads gilt als herausragendes Beispiel für die Erfolge der neuen türkischen Diplomatie. Auch politische Umbrüche in den Golfmonarchien dürften nicht gerade Erdoğans Vorstellungen entsprechen – erst Anfang des Jahres hatte er bei einem Aufenthalt in Kuwait die enge Freundschaft zwischen Türken und Arabern unterstrichen und den gemeinsamen Kampf gegen die „Kreuzzügler“ beschworen.

Das libysche Abenteuer der „Koalition der Willigen“ könnte indes dafür sorgen, daß sowohl Erdoğan als auch sein Außenminister bald wieder als Vermittler gefragt sein werden, was eine weitere Aufwertung der Türkei im Nahen und Mittleren Osten zur Folge haben dürfte.

 

Prinzipien türkischer Außenpolitik

Ahmet Davutoğlu, Chefberater des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seit 2009 Außenminister der Türkei, gilt als Schöpfer der „neuen, aktiven“ türkischen „Soft Power“-Außenpolitik. Auf einer Veranstaltung des „Bergedorfer Gesprächskreises“ im Februar 2007 skizzierte er die  „grundlegenden Prinzipien“ dieser Politik. Demnach geht es darum, „ein Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Freiheit in der Türkei und in der Region“ herzustellen. Zweitens versucht die Türkei, eine „Null-Problem-Politik“ mit ihren Nachbarn zu verfolgen. Drittens will die Türkei „als Friedensstifter zur Stabilität in jenen Nachbarregionen beitragen, von denen Gefahren ausgehen“.  Viertens sollen sich die Beziehungen der Türkei „zu unterschiedlichen Partnern auf der Welt nicht länger widersprechen, sondern sich ergänzen“. Fünftens verfolgt Ankara eine „dynamische und aktive Diplomatie“, die durch „relevante wirtschaftliche wie kulturelle Instrumentarien unterstützt“ werden soll. Sechstens arbeitet die Türkei daran, in allen internationalen Foren noch „sichtbarer“ zu sein.

Foto: Der türkische Premierminister Recep T. Erdogan vor einem türkischen Fahnenmeer: Auf dem langen Weg, die Türkei als orientalische Führungsmacht zu etablieren 

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