© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Unvereinbare Menschenbilder
Diskussion um Bioethik: Britischer Pragmatismus gegen den Absolutismus des Grundgesetzes
Florian Sscholtz

In Großbritannien ist die Forschung an menschlichen Embryonen erlaubt. Mit der letzten Novellierung des Human Fertilisation and Embryology Act (2008) ist zudem die Erzeugung von tierisch-menschlichen Mischembryonen gestattet. In Deutschland hingegen machen das Embryonenschutzgesetz (1990) und das Stammzellengesetz (2001) derartige Forschungen bislang unmöglich.

Nach Auffassung der Freiburger Theologin Sibylle Rolf stehen hinter der liberalen britischen, international nachgeahmten und der restriktiven deutschen Forschungspolitik zwei unvereinbare Menschenbilder (Zeitschrift für medizinische Ethik, 1/11). Die Wissenschaftskultur der Engländer werde dabei immer noch von einer Weltanschauung geprägt, die ihnen schon die Völkerpsychologie des 19. Jahrhunderts attestierte: vom pragmatischen Nützlichkeitsdenken. Entsprechend verlief seit 1978, als in einem britischen Labor die erste In-vitro-Fertilisation glückte, die Debatte um Möglichkeiten und Grenzen der Embryonenforschung. Deren Nutzen für hochrangige medizinische Zwecke wie die Entwicklung von Therapien degenerativer Krankheiten (Alzheimer, Parkinson) fiel während einer im Geist des „klassischen Utilitarismus“ getroffenen Güterabwägung stärker ins Gewicht als der maximale Schutz menschlichen Lebens bereits vom Moment der Verschmelzung der Keimzellenkerne an, die ein neues Genom entstehen läßt.

Anders als die katholische stehen die anglikanische und die schottische Kirche mehrheitlich hinter dieser für sie „ethisch akzeptablen“ Handhabung. Ihre Theologen rechtfertigen ihre Zustimmung mit dem „Heilungsmandat der Kirchen“. Die etwa 14 Tage bis zur Einnistung der befruchteten Eizelle (Zygote) in die Gebärmutterschleimhaut definieren Forscher und Medizinpolitiker des Königreichs als „prä-embryonal“. Die mit der Verschmelzung entstandene genetische Identität reicht für sie nicht hin, um dem neuen Lebewesen mit dem Status des Embryos auch den des Menschseins zuzuschreiben, wie dies der deutsche Gesetzgeber getan hat.

Zum absolut schutzwürdigen, dem Zugriff der Forschung entzogenen Embryo wird das Genom nach britischem Recht daher erst, wenn mit der Einnistung eine Zwillingsgeburt auszuschließen ist und sich Vorläufer des neuronalen Systems ausbilden. So nutzen britische Genetiker ein zwei Wochen offenes Zeitfenster, um den „Prä-Embryo“ zu untersuchen. Den Forderungen von Platzhirschen des bioethischen Diskurses wie Peter Singer genügt eine solche Praxis bei weitem nicht. Moralphilosophen der Singer-Fraktion lassen das Menschsein erst mit dem selbstbewußten Personsein beginnen und erklären menschliche Embryonenforschung daher für „grundsätzlich“ erlaubt.

Im Vergleich dazu wirkt die deutsche, regelmäßig als forschungsfeindlich geschmähte Gesetzeslage fast fundamental-katholisch. Die Theologin Rolf führt dies auf „das Menschenbild des Grundgesetzes“ zurück. Es räume der Menschenwürde eine absolute Position ein, die nicht wie in England „gradualistisch“ zugunsten anderer Rechtsgüter wie Wissenschaftsfreiheit oder Gesundheit relativiert werden dürfe.

Die Paradoxie, die daraus entsteht, daß einerseits die Menschenwürde den Embryo von der ersten Daseinssekunde an rigide schützt, während andererseits derselbe Staat des Grundgesetzes aufgrund freizügiger Regelungen einen internationalen Spitzenplatz in der Statistik der Schwangerschaftsabbrüche belegt, fällt Sibylle Rolf indes nicht auf. Ebensowenig bemerkt sie die Abkoppelung der auch von ihr verfochtenen „absoluten“ bioethischen Position von den wissenschaftspolitischen Realitäten.

Während sie ihren strengen Maßstab in die aktuell wieder in Fluß kommenden Erörterungen über „Hirntod“ und „Sterbehilfe“ einbringen möchte, scheint hier wie in der Präimplantationsdiagnostik (JF 12/11) eher britischer Pragmatismus am gesetzgeberischen Horizont in Sicht. Und aus der Achtung der Menschenwürde, so die Philosophin Theda Rehbock (Marburg), läßt sich dann beim Thema Hirntod flugs die Pflicht deduzieren, „die Apparate abzustellen“ (Ethik der Medizin, 1/11).

Der langfristig vielleicht auch die Wirklichkeit deutscher Labore und Kliniken restlos dominierende angelsächsische Utilitarismus wäre allerdings kein Abschied von konträren abendländisch-christlichen Traditionen. Wie der Luzerner Kulturhistoriker Valentin Groebner in seinem Rückblick auf europäische „Körperbilder“ zeigt (Ethik in der Medizin, 1/11), sind Kommerzialisierung und Funktionalisierung des menschlichen Körpers keine Phänomene der modernen Gesundheitsindustrie.

Denn Embryonenforschung im Dienst von Pharmakonzernen, Transplantationstourismus oder ein florierender Organhandel, die heute dem „Fleischmarkt“ eigentümlich sind, hätten zahllose vormoderne Entsprechungen. Groebner erinnert an die enthemmte Leichenakquise anatomischer und pathologischer Universitätsinstitute, an die medizinische Verwertung Hingerichteter, den Reliquienkult, den das keineswegs körperfeindliche, sondern „geradezu vom Körper besessene“ Christentum zum blühenden Wirtschaftszweig machte, schließlich an den Verkauf oder die Verpfändung von Körperteilen, die ihren bekanntesten literarischen Niederschlag in Shakespeares Shylock-Figur fand.

Vor diesem Hintergrund steht die britische Wissenschaftskultur in der gemeineuropäischen Kontinuität ökonomisch orientierter Körpervernutzung, während sich zumindest unsere Embryonenschutzgesetzgebung wie ein deutscher Sonderweg in der Medizinforschung ausnimmt.

Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften:  www.drze.de

Foto: Befruchtung im Reagenzglas: Anders als die katholische steht die anglikanische Kirche mehrheitlich hinter der Embryonenforschung

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