© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

„Wir stehen am Abgrund“
„Europa schafft sich ab“, warnte Gregor Henckel von Donnersmarck jüngst in einem Beitag für den Focus. Hat das christliche Abendland noch eine Chance, seinem Schicksal zu entgehen?
Moritz Schwarz

Herr Abt, es ist Ostern, das Fest der Hoffnung und der Auferstehung – und Sie sagen den Untergang des Abendlandes voraus?

Abt Gregor: Diese beiden Fragen haben an sich nichts miteinander zu tun. Ostern richtet sich an den einzelnen Menschen, das Problem Europas ist ein politisches. In Deutschland wurde unlängst debattiert, ob das Land dabei ist, sich „abzuschaffen“. Beunruhigen müßte uns aber viel mehr, daß ganz Europa im Begriff ist, sich abzuschaffen.

Warum?

Abt Gregor: Weil auf dem Alten Kontinent seit etwa vierzig Jahren eine Entwicklung im Gange ist, die den Demographen Anlaß zu der Prognose gibt, daß es in etwa sieben bis elf Generationen – also „pi mal Daumen“ in zweihundert Jahren – keine Europäer in unserem Sinne mehr geben wird. Es werden dann andere Menschen in Europa leben. Nachkommen von uns alten Europäern werden nur noch marginal in den Randzonen zu finden sein.

Kulturpessimismus?

Abt Gregor: Vielleicht bin ich ein Kulturpessimist, aber sicher bin ich Kultoptimist. Der Europäer, wie wir ihn kennen, hat sich quasi in einen Suizid gestürzt und zwar in Gestalt der Destabilisierung von Ehe und Familie, Verhütung, Tötung ungeborener Menschen und der Gleichberechtigung von nicht auf Fortpflanzung angelegter Lebensgemeinschaften. Ich möchte dabei klarstellen, daß ich nicht der Diskriminierung das Wort reden will. Im Gegenteil bin ich als Christ strikt gegen so etwas. Aber Diskriminierung bedeutet nicht nur, daß man Gleiches ungleich stellt, sondern ebenso, daß man Ungleiches gleich stellt. Faktum ist zum Beispiel, daß die Ehe schwerst diskriminiert wird, wenn man ihr Lebensgemeinschaften, die nicht ihrem Charakter entsprechen, ähnlich oder gleich macht.

Gut, aber in zweihundert Jahren, da lebe ich sowieso nicht mehr.

Abt Gregor: Wir tragen aber sehr wohl Verantwortung für die Zukunft. Die meisten Europäer betrachten de facto Freiheit und Wohlstand als Endpunkt unserer Entwicklung und daraus resultiert eine Unlust an der Zukunft. Denn wenn ich mich im Grunde für nicht viel mehr als eine etwas komplexere Amöbe halte, die sich zwischen Mausklick und Gaspedal nur darum kümmert, genug zu essen zu haben und Freiheit nur mit Bindungslosigkeit gleichsetzt, dann ist da natürlich kein Streben mehr nach dem „Danach“ und dem „Darüberhinaus“, und es gibt auch nichts mehr weiterzugeben.

Freiheit kann also nicht der letztgültige Wert sein, weil, wie Sie sagen, „der Mensch ein Wesen mit Ablaufdatum ist“?

Abt Gregor: Heißt das, daß Sie Freiheit und Wohlstand kritisieren? Um nicht mißverstanden zu werden: Freiheit und Wohlstand sind erstrebenswerte Güter, kein Zweifel. Aber der Mensch muß seine Freiheit nützen und in gewisser Hinsicht investieren, ja hingeben, um noch höhere Güter wie die Liebe oder den Glauben zu erwerben. Wer sein ganzes Leben völlig „frei“ bleibt, der ist am Ende des Lebens durch die äußeren Bedingungen „festgenagelt“ und er wird feststellen müssen, daß er stets durch die Umstände seiner Umwelt bestimmt war und nie selbst entschieden hat. Er geht dann folglich auch „frei“ in den Tod – wenn Sie den doppelten Sinn des Wortes „frei“ in diesem Zusammenhang zulassen. Übrigens glaube ich, daß diese Krise doch von vielen Europäern zumindest im Unterbewußtsein gespürt wird.

Gibt es denn eine Aussicht auf Rettung?

Abt Gregor: Ich würde es hoffen, denn wissen Sie, ich bin persönlich sehr bewußt ein „Alter Europäer“, ich bin der europäischen Kultur innigst verbunden und meine Familie ist seit fast sechshundert Jahren, wenn auch nur als ein kleines Samenkorn, mit der europäischen Geschichte verwachsen. Aber Europa hat sich in seiner heutigen, modernen Weltanschauung, die sich aus einer pervertierten Aufklärung entwickelt hat, verrannt. Zwar kann man nicht oft genug daran erinnern, daß die Aufklärung christlichen Ursprungs ist, aber in tragischer Weise ist sie aus dem Christentum „herausgerutscht“. Und Europa hat sich so tief in dieser verhängnisvollen säkularen Weltanschauung verirrt, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie es sich daraus noch befreien könnte – so sehr ich es auch wünschte.

Sie sind der Onkel des bekannten Filmregisseurs Florian Henckel von Donnersmarck. Wie reagiert er – stellvertretend für die junge Generation gefragt –, wenn Sie ihn mit solchen Einsichten konfrontieren?

Abt Gregor: Das müssen Sie ihn bitte selbst fragen.

Wenn Sie keine Zukunft für Europa sehen, wo bleibt dann aber das Hoffnungsvolle, das Sie uns in Ihrer ersten Antwort in Aussicht gestellt haben?

Abt Gregor: So sehr ich den Untergang des Alten Europa bedauere, entscheidend ist für mich nicht, daß unsere Gene erhalten bleiben, ja nicht einmal, daß unsere wunderbare alte Kultur besteht, entscheidend ist allein, daß unser Glaube weitergegeben wird. Ich bin also, wie ich schon sagte, vielleicht Kulturpessimist, aber ein Kultoptimist. Denn die Kultur ist nur ein Ausfluß des Kultes und dieser als das Größere und Wichtigere – und das ist die gute Nachricht – bleibt.

Wie können Sie da so sicher sein?

Abt Gregor: Das will ich Ihnen mit einer kleinen Geschichte verdeutlichen:  Voriges Jahr ging ich mit einem meiner Neffen auf dem Tempelhofer Feld in Berlin spazieren, ich natürlich im Habit. Da tritt aus einer Gruppe mit, wie man heute sagt, „Migrationshintergrund“ ein junger Mann auf mich zu. Ich befürchte schon, jetzt komme es zur Schlägerei, denn er fragt mich: „Sind Sie Muslim, Jude oder Christ?“ Ich erwidere: „Christlicher und katholischer Ordensmann und Priester!“ Da ruft er: „Ich danke Ihnen! Denn ich bin katholischer Chaldäer aus dem Irak. Segnen Sie mich!“ Am Abend dann lädt mich mein Neffe zum Abendessen in ein koreanisches Lokal ein. Wir kommen an, da stürmt der Wirt auf mich zu, begrüßt mich herzlich, ruft Familie und Angestellte zusammen und sagt: „Wir freuen uns, daß sie als katholischer Priester bei uns zu Gast sind, denn wir sind katholische Südkoreaner!“ Merken Sie, woher die neuen Christen Europas kommen?

Halten Sie diese Episoden für repräsentativ?

Abt Gregor: Ja.

Tatsächlich befinden sich doch auch Christentum und Kirche in Europa im beschleunigten Niedergang. 

Abt Gregor: Das mag sein, aber das ist keine Krise der Kirche, auch das ist die Krise Europas, denn die Kirche blüht weltweit auf. Wenn aber in Europa das Gezeter über die Krise der Kirche losgeht, dann ist das eigentlich der Ruf ausgerechnet des Diebes: „Haltet den Dieb!“ Wir lenken damit nur unterbewußt von unserer eigenen Krise ab, indem wir auf die Kirche zeigen. Aber früher oder später wird das Erwachen kommen und die Erkenntnis, daß es nicht die Kirche ist, die am Abgrund steht, sondern wir selbst. Das Christentum dagegen ist weltweit – und da ist unser europäisches Dahinschwinden schon eingerechnet – in einer positiven Phase: Weltweit nehmen nicht nur die Priesterberufungen und nicht nur die absoluten Zahlen zu, sondern sogar ganz leicht der christliche Prozentanteil an der Weltbevölkerung! Und überall dort, wo Christen in der Minderheit sind, sind sie die meistbeachtete und meistbeneidete ... 

... und auch meistverfolgte Glaubensgemeinschaft.

Abt Gregor: Ja, auch das stimmt und eben wollte ich es erwähnen. Aber – ohne damit etwa Freude über die zum Teil schrecklichen Verfolgungen ausdrücken zu wollen – es hat sich in der Geschichte immer wieder erwiesen, daß das Sanguis Martyrorum, also das Blut der Märtyrer, der Semen Christianorum, also der Samen für neues Christentum ist.

Auch wenn die Weltkirche wachsen mag, in Europa haben die Muslime die dynamischste Demographie.

Abt Gregor: Das stimmt, aber die Auseinandersetzung mit der modernen europäischen Zivilisation ist für den Islam die eigentliche Herausforderung.

Die meisten Bürger sehen wohl eher den Islam als die „eigentliche Herausforderung“ an.

Abt Gregor: Wir sollten erkennen, daß sich hier vielmehr die Chance einer Allianz der Gläubigen eröffnet, gegen den säkularisierten, diktatorischen Relativismus, der sich in Europa breitmacht und der die eigentliche Gefahr unserer Zeit ist. Man lebt so, als ob es Gott nicht gäbe und erklärt diesen Relativismus zur Universalreligion, die alle anderen Religionen mediatisiert. Das, und nicht etwa andere glaubende Religionen, ist das Problem. Das ist auch genau das, worauf der Heilige Vater immer wieder hinweist. Wir müssen deshalb den Dialog mit den Muslimen pflegen.

Könnte sich das nicht schnell als tödlicher Fehler erweisen? In den meisten islamischen Staaten werden Christen und Nichtmuslime auf die ein oder andere Art mindestens diskriminiert, wenn nicht gar verfolgt.

Abt Gregor: Das will ich nicht abstreiten, aber ich bitte Sie mal nicht zu vergessen, daß wir auch ohne Muslime hier in Europa schon genug Christenverfolgung hatten: Etwa durch die Kommunisten, die Nazis und auch Christen untereinander. Natürlich gibt es als neurotische Reaktion innerhalb des Islam auch genügend Desperados, die ihren Komplex gegenüber der westlichen Zivilisation in Gewalt ausdrücken. Aber das ist nicht der Islam insgesamt. Ich darf zum Beispiel an die von den Journalisten total mißverstande Rede des Heiligen Vaters in Regensburg 2006 erinnern. Nach der weltweiten Empörung empfing der Heilige Vater verschiedene Abordnungen muslimischer Würdenträger in Castel Gandolfo. Diese kamen eigentlich, um sich zu beschweren, aber am Ende entstand unter ihnen die Initiative zu einem sehr positiven gemeinsamen Brief von vierzig Muftis an den Heiligen Vater über den christlich-muslimischen Dialog. Nur haben das die Journalisten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen – na ja, bekanntlich gilt: „Only bad news are good news.“

Können Sie verstehen, daß es für viele Leser allerdings nur wenig tröstlich ist, daß allein das Christentum fortbesteht, Europa aber verschwinden beziehungsweise islamisch werden könnte?

Abt Gregor: Natürlich, aber für mich persönlich muß ich eben sagen, daß ich nicht nur von Herzen Alter Europäer bin, sondern an erster Stelle Christ und katholischer Mönch und daher meine Heimat letztlich die Weltkirche ist.

Wenn Europa als Wiege des Christentums nach fast 2.000 Jahren zurück ins Dunkel fällt, dann kann allerdings etwas am Heilsplan Gottes nicht stimmen?

Abt Gregor: Sie irren sich. Erfolg ist keine Kategorie des Christentums. Gott läßt uns die Freiheit, unsere persönliche Entscheidung zu treffen. Jeder von uns muß selbst entscheiden, was er für den Fortbestand des wahren Glaubens in Europa tun will oder eben nicht mehr zu tun bereit ist. Sogar das auserwählte Volk fiel in der Zeit des Goldenen Kalbs von Gott ab. Es war frei, das zu tun. Es mußte nur auch die Konsequenzen tragen.

Im Matthäus-Evangelium heißt es: „Da wird sein Heulen und Zähneklappern.“

Abt Gregor: Diese Stelle bezieht sich aber nicht auf das Versagen des auserwählten Volkes vor dem Goldenen Kalb, sondern auf jene wenigen, die am Ende der Zeit das Ziel des schönen Seins bei Gott nicht erreichen. – Die Welt wird auch ohne Europa weiterbestehen. Das Christentum hat eine ähnliche Situation schon einmal erlebt: Am Ende der Antike wurde es in Mitteleuropa von heidnischen Einwanderern verdrängt. Männer wie der heilige Severin von Noricum arbeiteten weiter für den wahren Glauben. Dabei sah es zu seinen Lebzeiten nicht gut aus. Als er 482 starb, mußte sogar sein Sarg nach Süditalien in Sicherheit gebracht werden. Doch einige Jahrhunderte später – und das paßt vielleicht doch zur österlichen Auferstehungsbotschaft dieser Tage – ging die Saat auf und ein neues christliches Europa entstand.

 

Gregor Graf Henckel von Donnersmarck, machte im März durch seinen Debattenbeitrag „Europa schafft sich ab“ im Focus auf sich aufmerksam. Der ehemalige Abt des Zisterzienserstifts Heiligenkreuz bei Wien ist der Onkel des bekannten Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck, der 2007 für sein Stasi-Drama „Das Leben der anderen“ den Oscar erhielt. Beide entstammen dem schlesischen Adelsgeschlecht (Wappen links), das 1636 vom Kaiser persönlich geadelt wurde und aus dem preußische Generäle, Unternehmer, Industrielle und Politiker hervorgegangen sind. 1913 galt das Haus nach den Krupp als reichste Familie Deutschlands und unterhielt die größten Schloß- und Parkanlagen des Deutschen Reiches im oberschlesischen Neudeck. Der Benediktiner-Mönch wurde 1943 in Breslau geboren und veröffentlichte etliche Bücher, zuletzt 2010:  „Ora @ labora. Über Gott und die Welt und das Paradies auf Erden“ (Residenz-Verlag). 

Foto: Gottesdienst mit Papst Benedikt im Colosseum in Rom, Karfreitag 2010:  Es ist eine Entwicklung im Gang, nach der es in 200 Jahren keine Europäer in unserem Sinne mehr geben wird

 

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