© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Initiation im Löschteich
Unvergessener Wehrdienst: Bei den Panzeraufklärern in Lüneburg / JF-Serie, Teil 1
Dieter Stein

Es regnete in Strömen, als wir den Löschteich erreichten. „Los, keiner macht schlapp! Vorwärts!“ Der Feldwebel schrie uns an. Wir, das war die Ausbildungskompanie des Panzeraufklärungsbataillons 3 in Lüneburg. Die Unteroffiziere haßten die Juli-Quartale, hier kamen die Abiturienten. 60 Rekruten, frisch von der Schule, 18 bis 20 Jahre alt. Vor ein paar Stunden noch mit großer Klappe.

Diese Schlauberger quasselten ihnen zuviel. „Wächst mir Gras in der Tasche? Bin ich Jesus?“ bellten die Ausbilder die jungen Männer an, die aus Uelzen, Buchholz und Lüchow-Dannenberg kamen, um ihren damals 15 Monate währenden Wehrdienst zu leisten.

Fluchend liefen die ersten in den brackigen, 50 Meter breiten Teich. Hier wurden die Panzer des Bataillons gewaschen. Das von Matsch, Öl und Farbresten verunreinigte Wasser hüfthoch. „Schnauze! Weiter! Braucht jemand eine Extraeinladung?“ Der Regen hatte uns sowieso schon völlig durchnäßt. Schlamm lief in die nagelneuen Kampfstiefel. Mit Kampfanzug und Stiefeln waren wir gerade eine knappe Stunde durch die Theodor-Körner-Kaserne gelaufen. Das erste Mal über die Hindernisbahn („Rödelbahn“) getrieben worden. Mit Eskaladierwand, Kriechen über Stahlseil, Durchrobben unter Drahtverhau und anderen Schikanen. Das erste Mal so richtig das Gefühl,wehrlos ausgeliefert zu sein und nur zu gehorchen.

In der Kompanie waren neben den Abiturienten auch eine Handvoll Hauptschüler und ein langhaariger Ex-Knacki dabei, der erst einmal zum Friseur befohlen worden war, damit er den Haarappell überstand. Ferner mehrere Freiherren mit Siegelring, die sich standesgemäß zu den Aufklärern gemeldet hatten. Das Bataillonsabzeichen, ein springender Reiter auf goldgelbem Grund, unterstreicht, daß sich die Panzeraufklärer als Eliteverband in der Tradition der Kavallerie sehen, traditionell die Einheiten, die einst der Adel trug.

Für einige, die bisher „nur Wasser und CD“ an ihren Körper gelassen hatten, war dieses „Gemeinsame Ausdauertraining“ (Dienstplan) fast zuviel. Wie wird aber aus einem Haufen verwöhnter Individualisten eine militärische Einheit, in der sich jeder einfügt? Wie entsteht Kameradschaft zwischen dem Hasch rauchenden Ex-Knacki aus dem Rheinland, dem bräsigen Hauptschüler aus Lüneburg und dem Sohn des Chefs der Frankfurter Börse? Irgendwie war der Marsch durch den verschlammten Löschteich eine Initiation, danach riß mancher seine Klappe nicht mehr so weit auf, die ruppigen Unteroffiziere hatten den Widerstand bei den arroganten Abiturienten gebrochen. Das Rumdiskutieren nahm ebenso ab, wie die Standesunterschiede schwanden. Humor und trockene Sprache glichen sich an. Mancher stand das erstemal im Leben nackt mit Fremden unter der Dusche, mußte nie zuvor die Toilette anderer reinigen, teilte jetzt mit bis zu fünf Kameraden ein Zimmer, mußte lernen, wie man Hemden vorschriftsmäßig faltet und sein Bett macht. Es hat niemandem geschadet, im Gegenteil.

Eine Woche vorher, am 1. Juli 1988, hatte ich vor der Kasernenwache gestanden und meinen Ausweis gezeigt. Als ich das Tor passierte, endete für mich endgültig die Kindheit und begann das Erwachsenenleben. Und ich war froh darüber! Mein Abitur lag zwei Monate hinter mir, das Elternhaus war in 800 Kilometer weite Ferne gerückt.

Bei meiner Musterung im südbadischen Freiburg ein Jahr zuvor Jahr hatte ich anstelle einer üblichen heimatnahen Verwendung als Wunsch angegeben: Panzeraufklärer in Lüneburg. Mein Vater, Berufssoldat, trug die goldgelben Kragenspiegel dieser Waffengattung. Einer seiner Offizierskameraden hatte mir gesagt: Lüneburg – das sind die Besten. Sieben Stunden dauerte jedes Wochenende die Bahnfahrt nach Hause.

Ab dem ersten Tag hieß es „Laufschritt!“ Ob auf dem Weg zur „Kanne“ (Kantine), den Panzerhallen oder Lehrgebäuden: „Im Laufschritt, Marsch!“ Dauerlauf war mir zuwider. Ich habe mich gequält. Für das Erreichen des Sportabzeichens sollten wir 5.000 Meter in 23 Minuten laufen – ich schaffte es nur in 24 Minuten. Später wurden die fünf Kilometer zu meiner Standardlaufstrecke und ich versuchte lange, die Zeit nachzuholen.

Meine Wehrdienstzeit endete im September 1989, zwei Monate vor dem Mauerfall. Unser Auftrag lautete noch: Abwehr eines potentiellen Angriffes des kommunistischen Warschauer Paktes. Gleich nach der dreimonatigen Grundausbildung nahm ich noch an einem der letzten großen Nato-Herbstmanöver teil: Korps-Gefechtsübung „Free Lion“ mit 44.000 Soldaten und 500 Panzern im Großraum Ostwestfalen/Lippe. „Rot-Land“ gegen „Blau-Land“.

Gammeldienst? Sicher gab es kontemplative Langeweile während der 24-Stunden-Wachdienste auf dem Munitionsdepot, Mitternacht, irgendwo bei Wendisch Evern und Minusgraden. Oder das Warten, abgetaucht auf dem Richtschützenplatz des Leopard 1A5 beim Reinigen mit Talkum und in Erwartung der Nato-Pause. Aber: Es ist eine unvergessene Zeit.

Foto: Dieter Stein (vorne) vor einem Kampfpanzer Leopard 1A5: „Los! Keiner macht schlapp!“

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