© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

„Jeder Tag beginnt mit Beten“
Zu Besuch bei den Huzulen in der Ukraine: Das Dorf der untypischen Ostereier
Iryna Mychalkiw / Lubomir T. Winnik

Genau 48 Grad Nord und 24 Grad Ost – das sind die Koordinaten der geographischen Mitte Europas. Diese Werte legten anno 1887 österreichisch-kaiserliche Landvermesser fest. Aus der Vogelperspektive gesehen „versteckt“ sich hinter den Graden das Huzulenland, das Terrain im Karpatengebirge der westlichen Ukraine, bekannt auch als Galizien.

Die Huzulen sind ein eigenwilliges Bergvolk mit dem Hang zum Besonderen. Viele Gelehrte befaßten sich mit ihrer Kultur, zu den ältesten bekannten Werken zählen wohl die Reisebeschreibungen des österreichisch-bretonischen Naturwissenschaftlers Belsazar de la Motte Hacquet, die er im Jahr 1791 verfaßte. Wir gehen in den Fußstapfen Hascquets und besuchen das beschauliche Huzulendorf namens Kosmatsch.

Zwei imposante Kirchen glitzern in dessen Dorfkern, eine griechisch-katholische und eine orthodoxe. Um die Kirchen erheben sich malerische Berghügel übereinander, immer höher und weitläufiger, der Horizont löst sich irgendwo im blauen Dunst hinter einem entfernten Gipfelkamm auf.

In der jüngsten Geschichte befand sich Kosmatsch, so wie ganz Ostgalizien und Lodomerien, bis 1918 unter Österreichs Herrschaft. Dann wurde es wieder einmal polnisch. 1939 kamen die Sowjetrussen, anderthalb Jahre später die Deutschen, dann wieder die Russen. Noch bis 1953 tobte in der West-Ukraine ein opferreicher Partisanenkrieg, der bewaffnete Kampf der ukrainischen Freischärler gegen die russischen Besatzer. Kosmatsch galt als die Hauptstadt des Widerstandes.

Doch die Gemeindebewohner können noch auf andere, ganz friedliche Eigenschaften stolz sein. „Unser Dorf hat eine Länge von 21 Kilometern und umfaßt 84 Quadratkilometer“, erzählt der Bürgermeister von Kosmatsch Dmytro Poschodschuk (56). „Wir sind mit Abstand nicht nur das größte Dorf der Ukraine, sondern von Europa.“ Bereits zur Zeit der k.u.k. Monarchie waren seine Volkskünstler, Handwerker und das Brauchtum so sehr geschätzt, daß Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich die Gemeinde von den Steuerzahlungen befreite. In Kosmatsch erzählt man seit Generationen von der Huzulenhochzeit, die auf Einladung des Monarchen in Schönbrunn gefeiert wurde. Die Huzulen bekundeten ebenfalls ihre Sympathie für das Wiener Herrscherhaus, die Kaiser-Franz-Joseph-Bilder werden in vielen Häusern bis heute noch als Erbstücke pietätvoll aufbewahrt.

„Aber das Schönste, was aus Kosmatsch kommt, sind unsere Pysankas“, verkündet voller Stolz der massige Bürgermeister Poschodschuk, Diplomjournalist und einer der angesehensten Ostereimaler und Stricker im Lande. Der Begriff Pysanka entspringt dem ukrainischen Wort pysaty, das heißt schreiben. Die Eier werden demnach nicht bemalt, sondern beschrieben.

 Die huzulischen Pysankas weisen im allgemeinen sehr komplizierte, meist geometrische Muster auf, wechselweise versehen mit verschiedensten sakralen Symbolen. Hanna Lyndjuk, aus der Kirche kommend, als wir sie besuchten, erzählt: „Jeden Tag beginne ich mit Beten und Fasten, denn das Gebet verleiht mir geistige Mitwirkung bei der schwierigen Arbeit an einem Ei. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß ein Osterei nicht lediglich ein Zier-, Sammel- oder Kunstobjekt ist. Es verkörpert allem voran das Leben und die Fortsetzung des menschlichen Geschlechtes.“

Hanna und ihre Tochter Olha setzen sich auf die kleinen Hocker am Fenster und beginnen mit dem „Beschreiben“ von Ostereiern. Hier in Kosmatsch dominieren feurige gelbe und orangerote Farben. Dann kommt noch Schwarz und eine Prise Grün dazu. Mit einer Kistka, einem nadeldünnen Röhrchen, gesteckt in ein Holzstäbchen, werden die Farben in Batikmanier auf das Ei aufgetragen. Zuerst kommt die Skizze, gezeichnet mit der Kistka und ohne irgendwelche Vorzeichnungen. Das Erstaunlichste dabei: Die feinsten, präzis geometrischen Muster, Formen und Ornamente, auch die perfekten Kreise und Ellipsen werden nur noch von Hand gemacht, und sie reihen sich immer paßgenau auf die Eioberfläche. Bei jedem Farbwechsel wird das Ei in flüssiges Wachs getaucht, das weitere Ornament mit heißer Kistka weggeschmolzen und mit neuer Farbe gefüllt. Ein fürwahr irrsinniger Zeit- und Arbeitsaufwand!

Anschließend kostet das wohl ungewöhnlichste Osterei der Welt umgerechnet einen Euro und fünfzig Cent. Die skrupellosen Händler, meist ukrainischer Herkunft, aus dem Ausland kassieren dafür bis zu 80 US-Dollar pro Stück!

 „Ostern in Kosmatsch“ heißt das nationale und internationale Osterei-Festival, welches hier seit Jahren abgehalten wird. Dieses Jahr findet es vom 1. bis 2. Mai statt. Touristen, Geschäftsleute, Sammler sowie die internationale Prominenz lassen sich dabei in dem Dorf blicken, es ist ungefähr so wie ein ukrainisches Davos. Man erwirbt in Kosmatsch außer Ostereiern noch andere Kunstwerke, die nur hier erzeugt werden – einmalige Stickereien in glühendheißen Kosmatsch-Farben; Teppiche, darunter die berühmten Lischnyky, gefärbt im komplizierten, jahrhundertealten Verfahren mit bunten Naturpigmenten; prächtige huzulische Keramik und hausgewebte Stoffe; originelle Kosmatsch-Körbe und Zierfässer.

 Nicht zu vergessen die Fabrikation von Musikinstrumenten, wie etwa Hackbretter, Handorgeln, Brummeisen, oder Geigen, die ausgiebig mit Schnitzereien aus Holz und Kupfer verziert werden, weil die Huzulen, genau wie die Schweizer Appenzeller, dieselben Instrumente spielen (JF 44/10). Auffallend sind auch deren Muster und Art, auf den ersten Blick leicht zu verwechseln mit den appenzellischen. Nur, was wissen die Huzulen von den Appenzellern und umgekehrt? „Haben Sie von den Appenzellern gehört“, fragen wir den Bürgermeister Dmytro Poschodschuk. Nein. Darum fährt er mit seiner neuesten Ostereier-Ausstellung nach ... Uganda!

Fotos: Blick auf das galizische Kosmatsch: Die Mitautorin der Reportage und Chefredakteurin der Kolmäer Zeitung Kolomyski Wisty Iryna Mychalkiw blickt auf das längste Dorf Europas, in dem die Huzulen ihre Traditionen pflegen; Ostereierfertigung: Hanna Lyndiuk (r.) und ihre Tochter Olha „beschreiben“ die Pysankas (o.); die Feinarbeit mit der Kistka verlangt eine absolut ruhige Hand; die fertigen Pysankas.

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