© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

DVD: Titel
Seelische Reinigung
Harald Harzheim

Was ist das Leben! Ein Jagen, von morgens bis Mitternacht, nach der Seele, der wirklichen, unsterblichen Seele. Eine Spanne voll Traum, zwischen Gier und Ende“ (Rudolf Kurtz, 1926). Damit wäre auch der neue Film von Gaspar Noé, „Enter the Void“, perfekt beschrieben.

Noé, der 1963 geborene franko-argentinische Skandalregisseur, trieb vor zwölf Jahren das Festivalpublikum in Cannes mit „Irreversible“ in die Schockstarre, erzählte die Geschichte einer brutalen Vergewaltigung, deren Opfer ins Koma fällt. Ihr Freund rächt sie, indem er das Gesicht des (irrtümlich falschen!) Täters mit einem Feuerlöscher zu Brei stampft. Die Kamera fungiert als Folterinstrument, zeigt gedehnte Gewaltexzesse, reißt durch Schwankungen den Boden unter den (Zuschauer-)Füßen hinweg. Lediglich distanzierte Cineasten werden an Noés Filmen formale Qualitäten schätzen.

Als Gaspar Noé vor zwei Jahren erneut zur Kamera griff, überschritt er noch die letzte Grenze, die zum Tode: Der Großteil von „Enter the Void“ spielt nach dem Tod des Helden, zeigt mittels subjektiver Kamera die Wahrnehmungen seiner Seele nach dem Ableben des Körpers. Und die erinnern an endlose LSD-Horrortrips.

Im Amüsierviertel von Tokio vertieft sich der junge Dealer Oscar (Nathaniel Brown) in das tibetanische Totenbuch, das vom Umherirren jener Seelen erzählt, die von der Erde nicht lassen können, bis sie ihre nächste Reinkarnation erfahren. Bald wird er das Gelesene selbst erleben: Von einem Kunden im Nachtclub „Void“ verraten, erschießt ihn die Polizei. Oscars Seele löst sich vom Körper, eine Odyssee beginnt, durch die glitzernden Straßen von Tokio, immer in der Nähe seiner Schwester Linda (Paz de la Huerta), für die zu sorgen er versprochen hatte.

Beide bindet ein furchtbares Kindheitstrauma aneinander: Sie saßen auf dem Rücksitz des elterlichen Autos, das plötzlich ein Laster rammt. So wurden Oscar und Linda innerhalb einer Sekunde zu Vollwaisen. Verloren taumeln sie durchs Leben: „Hast du ein Ziel?“ fragt Oscar die Schwester. „Weiß ich nicht“, antwortet sie, „vielleicht so was wie eine große Liebesaffäre.“ Zahlreiche Erinnerungsfragmente passieren Oscars Blickfeld (und das der Zuschauer), münden immer wieder im traumatischen Unfall. Im Lauf dieser Zeitkreisel klärt sich die Handlung Schritt für Schritt. Die Kamera eilt durch Gassen, fährt durch stroboskopkartig flackernde Räume voller Vereinsamter, schwebt über die Dächer, schaut in tiefe Straßenschluchten, durchquert Raum- und Zeittunnel, schafft virtuelle Wurmlöcher; fährt in ein Einschußloch, durch den Wundkanal, um durch den Ausgang eines Spielplatzhäuschens wieder ins Freie zu gelangen, versinkt in flackernden Neonröhren oder im Feuerring eines Gasherdes.

Regisseur Gaspar Noé verarbeitete hier seine halluzinative DMT-Erfahrung. Die habe ihm das Gefühl seelischer Reinigung verschafft, so wie sich das Gehirn durch nächtliche Träume von unbearbeitetem Tagesballast befreit. Solche Assoziaton von Drogenrausch und tibetanischem Totenbuch ist keineswegs neu, schon Timothy Leary wies darauf hin, aber bei Noé findet sie maximale künstlerische Verdichtung. Ein weiterer Bezugspunkt ist Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“; dessen Finale findet ironische Zitation.

„Enter the Void“ kam vergangenen Herbst in die deutschen Kinos, allerdings nur in englischer Sprache. Die jetzt erschienene DVD bietet auch eine deutsche Synchronfassung.

DVD: Enter the Void. Capelight Pictures (Alive), Laufzeit etwa 156 Minuten

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