© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

„Geschichte einer Komplizenschaft“
Der Historiker Jan Gross forscht über die Verfolgung, Ermordung und Ausplünderung von Juden – durch Polen. Seine Ergebnisse sorgen immer wieder für Aufsehen und für wütende Proteste in Warschau.
Moritz Schwarz

Herr Professor Gross, Ihr neues Buch „Goldene Ernte“ war noch gar nicht erschienen, da brach in Polen bereits eine Kampagne des Protests dagegen los.

Gross: Das kam vor allem von Leuten, die nicht wissen, um was es geht.

Um was geht es?

Gross: Es geht um das Verhalten der lokalen Zivilbevölkerung unter deutscher Besatzung in Osteuropa, besonders in Polen. Dieses Verhalten war – zu unserem Entsetzen heute – vor allem geprägt durch weitgehende Akzeptanz der nationalsozialistischen Politik bezüglich der Juden.

Was heißt das konkret?

Gross: Man muß wissen, daß sich die Politik der Nazis gegenüber den Juden in den besetzten Gebieten langsam entwickelt hat. Es war keineswegs auf Anhieb eine Politik der Massenmorde, vielmehr ging es erst um Isolation, dann um Ausplünderungen und erst einige Stufen später um die Ermordung der Juden. Es zeigte sich dabei, daß so gut wie niemand protestierte. Nochmal zur Klarstellung: Ich spreche jetzt nicht über Deutschland, sondern über die lokalen einheimischen Gesellschaften im damals besetzten Osteuropa. Und es kommt noch schlimmer: Die Wahrheit ist, daß sich in zahlreichen Fällen die Einheimischen sogar an den Verbrechen beteiligt haben. Mein Buch ist also eine Geschichte der Komplizenschaft mit den Nazis – während man uns sonst ja die besetzten Osteuropäer allein als Opfer derselben vorstellt.

Das Titelbild der US-Ausgabe Ihres neuen Buches zeigt ein historisches Foto, das Sie für exemplarisch halten.

Gross: Oh, ich denke sogar, es ist eines der ikonographischen Bilder des 20. Jahrhunderts! Auf den ersten Blick hält man es für eine Fotografie, die einen gewöhnlichen Erntetag festhält: Man meint Bauern zu sehen, die sich in einer Erntepause auf dem Feld zwischen Strohgarben aufgestellt haben, um abgelichtet zu werden. Da ist diese Ruhe – man findet keinerlei Spannung in dem Bild. Aber wenn man genauer hinsieht, dann erkennt man plötzlich Waffen und Uniformen, Knochen und Totenschädel: Es sind gar keine Bauern bei der friedlichen Ernte, sondern eine Gruppe Polen auf einem Haufen von Leichen!

Das Bild zeigt nach bisherigen Erkenntnissen die Überreste ermordeter Juden des Konzentrationslagers Treblinka in der Zeit zwischen Juli 1942 und Oktober 1943.

Gross: Eben, und die Art von „Ernte“, um die sich diese Männer bemüht haben, ist von ganz anderer Art: Sie haben diese menschlichen Überreste nach dem durchsucht, was die SS übersehen hat: Zahngold, Münzen, Gebrauchsgegenstände, Kleidung – alles, was sie finden konnten, um sich zu bereichern.

Das, was Sie in Ihrem Buchtitel mit „goldene Ernte“ – umschreiben.

Gross: Und nicht nur in Polen, überall in Osteuropa hat die lokale Zivilbevölkerung in dieser Art von der NS-Judenpolitik profitiert, den Juden die Bürgerrechte zu nehmen und sie ihres Hab und Guts zu berauben.

Haben die Polen auf dem Foto vielleicht nicht aus persönlicher Not so gehandelt?

Gross: Natürlich ist Armut ein starkes Stimulans, um zu stehlen oder zu rauben. Aber wir sprechen hier durchaus von Bereicherung. Die einheimische Bevölkerung trieb Handel mit den deutschen Wachen, und ihre Bereicherung an den Toten ging sogar weiter, nachdem der Krieg bereits zu Ende war, sogar sehr lange noch! Natürlich, hier geht es nicht um die großen Formen des Raubes, wie ihn die Nazis betrieben haben, nicht um Kunst, Häuser, Fabriken, Vermögen, sondern wie gesagt um persönlichen Schmuck, Geldstücke, Kleidung, Hausrat, um die kleinen Habseligkeiten.

Sie schreiben, daß es jedoch nicht bei der Komplizenschaft in Sachen Raub blieb.

Gross: So ist es, die Komplizenschaft erstreckte sich schließlich zum Teil auch auf die Ermordung der Juden. Etwa erfuhr, wer versuchte, sich vor dem Abtransport in die Vernichtungslager zu verstecken, kaum Unterstützung bei der lokalen Bevölkerung. Vielfach beteiligte sich diese sogar daran, die Juden zunächst aus dem öffentlichen Leben zu entfernen und schließlich ganz und gar zu eliminieren.

Sie haben darüber schon in früheren Büchern geschrieben und waren dafür bereits heftigen Anfeindungen ausgesetzt.

Gross: Nun, der Antisemitismus war im 20. Jahrhundert ein weitverbreitetes Phänomen, das die Nazis nur radikalisiert haben – allerdings in einem schließlich kaum vorstellbaren Ausmaß. Unter der Herrschaft der Nazis kam es also zur Mobilisierung der bereits vorhandenen antisemitischen Affekte: Die Nazis zeigten den Osteuropäern, daß es möglich war, seinen Antisemitismus in jeder Form auszuleben, ihre Herrschaft hatte quasi einen katalytischen Einfluß auf den ethnischen Haß vieler Einheimischer.

Vor Ihren Büchern hat man kaum etwas über dieses Kapitel gewußt. Vor Ihrem Buch über den Fall „Jedwabne“ etwa hatte man hierzulande so gut wie nichts von polnischen Pogromen gegen Juden gehört.

Gross: Ja, obwohl es eigentlich erstaunlich ist, denn in Warschau liegen zahllose jüdische Vermächtnisse. Daraus habe ich die Geschichte von Jedwabne erschlossen, wo 1941 die einheimischen Polen des Dorfes unter den Augen der deutschen Besatzer etwa 300 bis 400 Juden zusammentrieben und ermordeten, teilweise lebendig verbrannten. Man muß nur ein oder zwei Stunden in dem Material herumlesen, um zu erkennen, welche dramatische Spannung damals zwischen den Juden und der Gesellschaft, in der sie lebten, bestand. Die Geschichte von Jedwabne war ein großer Schock für mich ...

... und für die polnische Öffentlichkeit, als Ihr Buch dazu 2001 erschien.

Gross: Und dabei war die Geschichte zumindest vor Ort gut bekannt. Denn tatsächlich wurde das Wissen darum in Jedwabne von Generation zu Generation weitergegeben. Dort war von meiner Enthüllung keiner überrascht! Und das, obwohl es im Dorf ein Denkmal gab, auf dem die Deutschen beschuldigt wurden, hier 1.600 Juden umgebracht zu haben. Als mein Buch angekündigt, aber noch nicht erschienen war, fuhr ein Journalist nach Jedwabne, um der Sache nachzugehen: Er brauchte so etwa „fünf Minuten“, um Zeitzeugen zu finden, die ihm bestätigten: „Ja, es waren nicht die Deutschen, sondern unsere Leute, die diese Juden damals umgebracht haben.“ Kein Wunder, diese Ereignisse fanden öffentlich und am hellen Tage statt, nicht heimlich und mitten in der Nacht. Die Inschrift auf dem Denkmal wurde übrigens inzwischen geändert. Aber Jedwabne war kein Einzelfall, im ganzen Land gab es solche Vorfälle. Und wenn die polnische Bevölkerung die Juden nicht selbst tötete, trieb sie sie zusammen und rief die SS, um sie an diese auszuliefern.

Der deutsche Antisemitismus gilt vielen als „singulär“. Würden Sie dem zustimmen oder zeigt Ihr Buch, daß er im Grunde einer unter vielen war?

Gross: Das soll man nicht vergleichen, denn es ist ja ein historischer Fakt, daß es der Antisemitismus der Nazis war, der schließlich zum Holocaust führte. Das war sicher ein einmaliges Ereignis. Es gibt keinesfalls irgend etwas daran zu deuteln, daß das, was die Nazis taten, einzigartig war. Aber wenn man zurück auf das Europa von 1930 schaut ...

... also in die Zeit, bevor Hitler an die Macht kam.

Gross: Dann würde man Deutschland wohl als eine Gesellschaft einschätzen, in der die Juden eher Hoffnungen auf gesellschaftliche Anerkennung haben konnten. Denn die deutschen Juden waren überwiegend sehr loyal gegenüber Deutschland und ihrem Land zugewandt, und bis zu einem gewissen Grad wurde das von den Deutschen auch durchaus anerkannt. Viele Deutsche betrachteten ihre jüdischen Landsleute inzwischen auch als Deutsche, die lediglich eine andere Glaubensüberzeugung hatten. Sicher, es gab auch christlichen Antisemitismus, aber Hitlers Antisemitismus fußte nicht auf diesem. Daniel Goldhagen argumentiert zwar, daß es eine lange Tradition eines eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland gegeben habe, ich bin aber nicht dieser Meinung. Auch wenn die Radikalisierung der Politik durch die Nazis später einzigartig war.

Kritisieren Sie die polnische Verdrängung der Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg?

Gross: Nun, diese polnische Verdrängung hat wohl etwas mit dem polnischen Opfermythos zu tun. Die Polen sind ja selbst Opfer einer brutalen Okkupation geworden und in ihrem patriotischen Muster sahen sie sich nur als Opfer. Da hatten weitere Facetten, eben in anderer Hinsicht auch Täter zu sein, keinen Platz. Dazu kam die kommunistische Zensur, die es nicht zuließ, daß man die Geschichte so schrieb, wie sie passiert ist, besonders nicht bezüglich nichtdeutscher Verbrechen an Juden.

Also: Würden Sie die Polen anklagen oder vor Anklagen in Schutz nehmen?

Gross: Nun, ich klage niemanden an, ich versuche nur zu sagen, wie es war. Es ist ja keine polnische Geschichte, sondern eine universelle.

Eben betonten Sie, der deutsche Antisemitismus sei einzigartig – aber der polnische ist universell?

Gross: Nein, nein, ich sagte, der Holocaust ist einzigartig. Antisemitismus dagegen ist ein universelles Phänomen.   

Sie haben Polen angeblich wegen des Antisemitismus dort im Jahr 1968 in Richtung USA verlassen.

Gross: In meinem Fall ging es eher um meine Beteiligung an der Studentenrevolte. Aber es stimmt, es gab damals eine Fraktion in der polnischen KP, die in der Tat die antisemitische Karte spielte. So wurden damals etwa viele Leute entlassen, weil sie Juden waren. In meinem Fall, wie gesagt, spielte das aber keine Rolle. Ich verließ die Volksrepublik Polen, was ich durfte, weil ich Jude war.

Steckte dahinter die Vorstellung, daß Sie eben kein „richtiger Pole“ sind – also auch ein antisemitisches Muster?

Gross: Nun, das war die Zeit, in der die polnische kommunistische Regierung eine antisemitische Politik gemacht hat ...

Für viele Polen sind Sie heute der meistgehaßte zeitgenössische Historiker.

Gross: Oh, für manche bin ich nicht einmal ein Historiker, sie nennen mich lieber etwa einen „Essayisten“ oder so, um meine wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu untergraben. Der Direktor eines angesehenen historischen Instituts hat mich einen Vampir der Historiographie genannt. Es gibt aber auch viele Polen, die mir sehr dankbar sind, daß ich Licht in dieses Kapitel ihrer Geschichte gebracht habe. Ich habe viele ganz wunderbare Briefe erhalten – das ist für mich die dominierende Erfahrung!

Wegen Ihnen erließ der Sejm 2006 ein „Lex Gross“, wonach mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden kann, wer „öffentlich die polnische Nation der Teilnahme, Organisation oder Verantwortung für kommunistische oder nationalsozialistische Verbrechen bezichtigt“.

Gross: Damals gab es eine Gruppe von Morlocks im Parlament, die diesen Unsinn durchgesetzt haben. Nun ja, Idioten gibt es überall. Aber das ist längst Geschichte, denn das Verfassungsgericht hat das Lex Gross 2008 kassiert. Und übrigens ist Polen das einzige Land in Osteuropa, in dem zu diesem Thema inzwischen eine nennenswerte Diskussion in Gang gekommen ist. Da tut sich mittlerweile einiges – das muß man zugunsten der Polen auch anerkennen!

Kritiker fürchten, Ihre Bücher gäben den Deutschen Gelegenheit, von den Untaten der Nationalsozialisten „abzulenken“.

Gross: Nein, das fürchte ich nicht, denn die deutsche Öffentlichkeit ist doch sehr vernünftig. So hat sich mein deutscher Verleger stets ausgesprochen verantwortungsbewußt gezeigt und sogar darum gebeten, die Rolle der deutschen Verbrechen in meinen Büchern so breit darzustellen, wie nur möglich. Die deutsche Gesellschaft ist in dieser Hinsicht fortschrittlicher als jede andere! Natürlich aus gutem Grund, denn die deutsche Schuld, das sollte man nicht vergessen, ist ja auch unvergleichbar.

 

Prof. Dr. Jan T. Gross, „Es gab die verbreitete Überzeugung, daß man die Juden loswerden müsse. Darum haben die Polen in den ersten Nachkriegsjahren die ethnische Säuberung, die Hitler begonnen hatte, zu Ende gebracht“, so der US-Historiker Jan Tomasz Gross. Durch seine Aufarbeitung der bis dahin weitgehend unbekannten polnischen Pogrome gegen Juden während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er international bekannt, vor allem durch seine Veröffentlichungen „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne“ von 2001 und „Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz“ von 2006 (nicht auf deutsch erschienen). Allein in den Jahren nach dem Krieg sollen laut Gross in Polen etwa 1.500 Juden bei Verfolgungen ermordet worden sein, 200.000 verließen das Land. Nun ist sein neues Buch „Zlote Zniwa/Golden Harvest“ („Goldene Ernte“) in Polen erschienen und hat heftigen Protest provoziert. Gross, 63, ist selbst polnisch-jüdischer Abstammung und lehrt in Princeton.

Foto: Fotografie „Goldene Ernte“: „Man meint, Bauern bei der Erntepause zu sehen. Doch schaut man genauer hin, erkennt man, es ist eine Gruppe Polen auf einem Haufen von Leichen. Ich denke, es ist eines der ikonographischen Bilder des 20. Jahrhunderts.“

 

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