© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

CD: Pop
Neben der Spur
Georg Ginster

Come out and play“, appelliert Hercules & Love Affair in „Leonora“, dem lässig entspannten Zwischenstopp im Auf und Ab der Fahrtgeschwindigkeiten und Stimmungen, die die neue CD „Blue Songs“ (V2 Records) zu bieten hat. Die Maximen lauten Zeitvertreib und Unterhaltung, sehen und gesehen werden, das Vergnügen an der Vergnügung im öffentlichen Raum, ermöglicht durch die Musik, deren Hörer durch Tanz in Beziehung zueinander treten.

Selbst Disko, und dies darf als die eigentliche Erkenntnis gelten, die das von New York aus gesteuerte Bandprojekt um den queeren Entertainer Andy Butler liefert, ist nicht zu profan, als daß Bemühungen um eine Romantisierung zum Scheitern verurteilt wären. Die emanzipatorischen Attribute, die hinzugedacht werden können, erschließen sich dem Durchschnittskonsumenten allerdings nicht ohne weiteres. Dazu bedarf es des verfeinerten Blickwinkels minoritärer sexueller Orientierungen, die Hercules & Love Affair gleich in mehreren Varianten im Angebot hat.

Das musikalische Ergebnis ist eine Mainstream-Replikation auf der Nebenspur, die selbst dort, wo Schnulze und Trash erklingen, ihren besonderen Reiz hat, ohne als Parodie mißverstanden zu werden. Die Masche, den Zugang zu neuen Hörerlebnissen zu suggerieren, wo man doch letztlich bloß mit nicht stereotyp heterosexuellen Orientierungen kokettiert oder vermeintlich festgezurrte Rollenmuster spielerisch aufsprengt, ist dabei so alt wie die jüngere populäre Musikkultur selbst, vom harmlosen Hüftschwung eines Elvis Presley über die androgynen Maskeraden eines David Bowie bis hin zu den Hardware-Manipulationen eines Genesis P-Orridge gibt es nichts, was auf diesem Gebiet nicht bereits in Szene gesetzt worden wäre.

Hercules & Love Affair kultiviert mit unbekümmerter Selbstverständlichkeit einen Hedonismus, der wenigstens für einen kurzen Moment das befreiende Gefühl vermittelt, individuelle Identitätsstiftung wäre nicht an die Position und die Aufgaben gebunden, die einem im arbeitsteiligen Gesellschaftsmoloch zugewiesen sind. Das Ausgangsmaterial, das in den Dienst dieser Mission zu stellen ist, fand Andy Butler diesmal in den 1990er Jahren, der Zeitsprung um eine Dekade vom Sound der Vorgänger-CD in jenen der aktuellen spiegelt sich in einer weitgehenden Neubesetzung der Band wider. Auch Antony Hegarty ist nicht mehr zu hören, obgleich doch gerade er als jemand gelten kann, der aus der Zeit gefallen ist und daher in jede paßt.

Auf das Nachstellen eines noch kleineren Milieus vergangener Tage setzt die britische Band O.Children mit ihrem gleichnamigen Erstling (Deadly People Recordings). Am Anfang des Gothic stand die Lederjacke, daran scheint die Formation, der der schwarze Hüne Tobi O’Kandi seine dunkle, rauchige Stimme verleiht, wohl zuallervörderst erinnern zu wollen, denn erst als die Gemeinde entdeckte, daß es vor 200 Jahren schon einmal eine literarische Strömung gegeben hat, die diesen Namen trug, war man darauf verfallen, sich pseudomittelalterlich zu kostümieren.

Wenn O’Kandi von Ruinen singt, meint er aber nicht Schlösser, sondern verfallene Industriearchitektur. Gegenwartsbezug sollte diesem netten und von des Schicksals Schwere kündenden Melodienstrauß aber nicht unterstellt werden.

Hercules & Love Affair,Blue Songs V2 Records 2011  www.v2music.com

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