© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Im Haifischbecken des Weltmarktes
Nach der Wirtschafts- und Finanzkrise: Der Neoliberalismus in der Krise des multilateralen Handelssystems
Uwe Ebel

Mit seinem Vertrauen auf die Wunderkraft des Marktes, die uns bald ins gelobte Land einer gerechteren Welt katapultieren werde, hatte sich der Neoliberalismus nach 1990 als der „bessere Sozialismus“ (Ulrich Beck) geriert. Heute hingegen, so klagt Detlef Kotte, Wirtschaftswissenschaftler im Sekretariat der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung in Genf, scheine das neoliberale Fundament, der Freihandel, erschüttert. Das multilaterale Handelssystem stecke in einer schwerwiegenden Krise. Abzulesen schon daran, daß die Doha-Verhandlungsrunde zur Weiterentwicklung des Systems seit 2004 nicht vorankomme (Welt-Sichten, 3-2011).

Die Interessenkonflikte zwischen Industrie- und Entwicklungsländern scheinen unauflösbar. Das alte Patentrezept „Handelsöffnung“ habe versagt. Seit den achtziger Jahren lasse sich nachweisen, wie gering die ökonomischen Impulse der Handelsliberalisierung in der Dritten Welt gewesen seien: „In den ärmeren Entwicklungsländern Afrikas und Lateinamerikas war das Wirtschaftswachstum nach der Marktöffnung geringer als in früheren Jahrzehnten.“

Die fürchterlichen Folgen solcher brachialen „Öffnungen“ allein im Rahmen regionaler Freihandelsabkommen veranschaulichen Timothy A. Wise (Tufts University) und Kevin P. Gallagher (Boston University) in diesem  „Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit“ am Beispiel Mexikos. Als der US-Nachbar 1993 das Freihandelsabkommen Nafta unterzeichnete, ahnten die auf Wachstum und Wohlstand hoffenden Mexikaner nicht, daß sie in ihren Ruin einwilligten. Der Handel belebte sich zwar, die Auslandsinvestionen vervielfachten sich. Profitiert haben aber allein die USA, die Mexikos Märkte nicht nur mit subventioniertem Fleisch und Getreide überschwemmten. Statt wie erwartet Güter und nicht länger Menschen zu exportieren, kam es umgekehrt. Die Wirtschaft stagnierte, und unter dem Nafta-Regime verdoppelte sich die Zahl der in den USA Arbeit suchenden Emigranten auf 600.000 pro Jahr.

Für Detlef Kotte deuten solche Prozesse auf gefährliche Systemfehler. Um sie zu beheben, müsse man der reinen Lehre des Neoliberalismus Korrekturen zumuten. Es gebe Schwellenländer, die nicht vom Mantra des Abbaus der Handelsschranken und dem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft hypnotisiert worden seien. Offenbar entfalte sich ein Aufschwung hinter der Mauer des Protektionismus besser als nach neoliberalen Spielregeln, die Entwicklungsländer schutzlos dem Haifischbecken des Weltmarktes überantworten. Da dieses „geltende Handelsregime“ die aufstrebende Konkurrenz der südlichen Hemisphäre abwürge, dürfe die Liberalisierung nicht einfach stur und unflexibel exekutiert werden. Dann wäre auch eine Annäherung in der Doha-Runde vorstellbar.

Doch eine Rückkehr zu mehr Regulierung müsse auch den Finanzsektor erfassen. Denn Verzerrungen des internationalen Handels durch Wechselkursspekulationen, die seit 1980 alle Finanz- und Zahlungsbilanzkrisen auslösten, wögen schwerer als jede Zollschranke. Eine Reform der internationalen Währungs- und Finanzordnung, die Wechselkursspekulationen einen Riegel vorschiebt, unterwirft nach Kottes Exposé gerade die am weitesten fortgeschrittene Liberalisierung, die des Finanzmarktes, neuen Regeln, die letztlich das multilaterale Handelssystem stabilisieren und Handelskriege wie in der „Großen Depression“ seit 1929 verhindern.

Daß keine der regulierenden Maßnahmen, die seit dem offenen Ausbruch der Finanzkrise im Herbst 2008 angedroht wurden, weder strengere Eigenkapitalvorschriften für Banken noch Tobin-Steuer oder gar die Etablierung einer internationalen Finanzaufsicht, bislang realisiert wurden, blendet der Reformer Kotte vermutlich nur deshalb aus, um sich nicht gänzlich zu demotivieren.

 www.welt-sichten.org

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