© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Die schwarze Genossin
Porträt: Der atemberaubende Aufstieg Angela Merkels von der politischen Quereinsteigerin aus der ehemaligen DDR zur Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland wirft noch immer viele Fragen auf
Hinrich Rohbohm

Die SMS kommt auf der Computermesse Cebit in Hannover. Vor laufenden Kameras. Angela Merkel blickt auf die Anzeige ihres Mobiltelefons. Es ist kurz nach 9 Uhr. Soeben dürfte sie die Nachricht vom Rücktritt ihres Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg erhalten haben. Sie blickt auf. Ein kurzes, schmales Lächeln. Dann stupst sie die neben ihr stehende Annette Schavan an, übergibt ihr das Handy. Die Forschungsministerin blickt auf die Nachricht, dann zur Kanzlerin. Beide sehen sich an. Kurz. Ein Blick der Genugtuung. Dann sehen sie wieder nach vorn, während Schavan zufrieden die Arme verschränkt und versucht, ein Grinsen zu unterdrücken.

Ein Video, auf der Internetplattform Youtube veröffentlicht, dessen Bilder aussagekräftiger sein könnten als jene zahlreichen Persönlichkeitsanalysen, die Journalisten und Biographen als Erklärungsversuche für das Phänomen Merkel von sich gegeben haben. „Den haben wir also auch erledigt“, deutet einer der zahlreichen Youtube-Kommentatoren das Gesehene. Merkel hat in der Union viele „erledigt“. Helmut Kohl, den sie im Zuge der CDU-Spendenäffäre stürzte. Friedrich Merz, den sie als Unions-Fraktionsvorsitzenden abservierte. Roland Koch, den sie 2008 auf dem CDU-Parteitag in Stuttgart bei einem versehentlichen oder vielleicht gar kalkulierten Versprecher als Roland Kotz bezeichnete. Dazu einen konservativen Bundestagsabgeordneten wie Martin Hohmann, den sie aus der Partei warf.

Zugleich ist die Leistung Merkels nicht zu verachten. Als ehemalige DDR-Bürgerin in einer westgeprägten Volkspartei schaffte sie es ohne politische Hausmacht an die Spitze einer Partei, die so gar nicht zu ihr zu passen schien. Ein Umstand, der ihr zuweilen den Vergleich mit Katharina der Großen einbringt, die als Deutsche in Rußland zunächst auch keinen leichten Stand hatte. Merkel ist es gelungen, der CDU maßgeblich ihren Stempel aufzudrücken. Daß die Union heute Koalitionen mit den Grünen eingeht, sich für mehr Zuwanderung stark macht, die Atomkraft ablehnt, Gesamtschulen absegnet und die Frauenquote befürwortet, hätte wohl kaum einer für möglich gehalten, als Merkel im April 2000 auf dem Bundesparteitag in Essen mit überwältigender Mehrheit zur CDU-Vorsitzenden gewählt worden war.

Wer aber ist die Frau, die sich auf dem Leipziger Parteitag 2003 noch so vehement für Freiheit und Marktwirtschaft stark gemacht hatte und die den Kurs der Union nun stetig weiter nach links verschiebt? Eine Opportunistin, die durch ihre Sozialisation in der DDR gelernt hat, wandelbar und anpassungsfähig zu sein? Eine, die einen Riecher dafür hat, wann man politische Fronten wechseln muß? Jemand, für den der persönliche Machterhalt an erster Stelle steht und politische Inhalte nur Mittel zum Zweck sind?

Oder ist sie eine die christdemokratische Partei in ihren Grundfesten zersetzende Kraft, die „späte Rache Erich Honeckers“, die die Union in eine „sozialistische Partei neuen Typus“ verwandelt, wie die libertäre Zeitschrift eigentümlich frei 2009 schrieb? Wer wissen will, wieviel Sozialismus in der Kanzlerin steckt, kommt nicht daran vorbei, sich mit ihrer DDR-Vergangenheit zu beschäftigen, ihr persönliches Umfeld näher zu betrachten und sich auf eine Reise zu begeben.

Es herrscht warmes, heiteres Wetter in der Uckermark. Jener seenreichen Landschaft im Nordosten Brandenburgs, in der die Kanzlerin aufgewachsen ist. Der 16.000-Seelen-Ort Templin ist seit 2005 „Kanzlerinstadt“. Viele wissen das hier. Viele wissen auch, daß Merkels Eltern hier leben. Horst und Herlind Kasner bewohnen einen Neubau am Ende der Wilhelm-Wilcke-Straße, einer Gegend mit gepflegten Häusern und Gärten mit freiem Blick auf Äcker und Wiesen.

„Hin und wieder kommt ein Audi hier durch die Straße gefahren. Da  wissen wir dann schon, das muß Sicherheitspersonal sein“, plaudern  Nachbarn über gelegentliche Besuche der Kanzlerin. Als sie noch CDU-Generalsekretärin war, haben sie Merkel noch selbst am Steuer ihres grünen Golfs gesehen. Ganz ungezwungen reden die Templiner über Horst Kasner. „Ein bodenständiger, umgänglicher Typ“, beschreibt ihn einer der Nachbarn. Doch in bezug auf die Vergangenheit der Kanzlerin reagieren Bekannte und Weggefährten nahezu panisch. Nur wenige wagen sich aus der Deckung. „Sie waren schon linientreu“, erinnert sich ein in seinem Garten arbeitender Rentner an die Kasners, der ein paar Straßen weiter wohnt.

Die in Vorwendezeiten oft als unpolitisch beschriebene Angela Merkel entstammt einer in hohem Maße politischen Familie. Schon Willi Jentzsch, ihr Großvater mütterlicherseits, war in den zwanziger Jahren Vorsitzender des Danziger Beamtenbundes. Zudem bekleidete der Oberstudiendirektor in der Hansestadt das Amt eines Senators. Ihr Urgroßvater mütterlicherseits war als Oberstadtsekretär im westpreußischen Elbing tätig.

Vor allem einer wirkte weitaus politischer als gemeinhin bekannt: Horst Kasner. Der Vater der Kanzlerin hatte seine Tochter entscheidend geprägt.  Nur wenige Wochen nach Merkels Geburt ging er mit seiner Familie 1954 freiwillig als Pfarrer von Hamburg in die DDR. Als Leiter des Pastoralkollegs, einer kirchlichen Weiterbildungsstelle, betrieb der in der DDR als „Roter Kasner“ bekannte Mann nicht nur die Ausbildung angehender Pastoren, sondern auch eine äußerst SED-konforme Kirchenpolitik. Gemeinsam mit dem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter und einflußreichen Funktionär in der DDR-CDU, Clemens de Maizière hatte er die Spaltung der evangelischen Kirche betrieben. Clemens de Maizière ist der Vater des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, der laut Spiegel als IM Czerny ebenfalls für die Stasi tätig gewesen war.  Auch zu Lothar de Maizière selbst pflegte Kasner Kontakte. 

Zudem war er in leitender Funktion Mitglied im Stasi-gelenkten Weißenseer Arbeitskreis, einem Zusammenschluß linker Theologen, der als verlängerter Arm der SED in der Kirchensynode galt.

Darüber hinaus gehörte der heute 84jährige der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) an, einer aus Moskau gesteuerten kommunistischen Tarnorganisation, der auch sein Förderer Albrecht Schönherr angehörte, der ihm den Posten des Pastoralkolleg-Leiters verschafft hatte. Nach Angaben des Merkel-Biographen Gerd Langguth lehnte Kasner neben der Wiedervereinigung auch die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und die westdeutsche CDU ab. 

Die Kasners genießen zu DDR-Zeiten Privilegien. Zwei Autos stehen ihnen zur Verfügung, ein Privatfahrzeug, ein Dienstwagen. Westreisen sind der Familie gestattet. Mehrmals darf Merkel in die Bundesrepublik reisen. Ihr Vater hatte 1974 und 1975 Italien besucht. Bei einem Diavortrag in Templin hatte er angemerkt, daß nur die Kommunistische Partei Italiens (KPI) gemeinsam mit anderen fortschrittlichen Kräften das Land aus dem Elend retten könne.

Die Freundin einer Mitschülerin an der Erweiterten Oberschule von Templin hat die heutige CDU-Chefin noch als „linientreue Marxistin“ in Erinnerung, die innerhalb ihrer Klasse eine führende Position innehatte. Eine Studentin, die Merkel von der Karl-Marx-Universität in Leipzig kannte, erinnert sich an „eine überzeugte Kommunistin, die ihre Klassenkameraden auf Linie gebracht“ haben soll. Und eine ehemalige Nachbarin der Kasners deutete auf einem Klassentreffen ihrem Schulfreund an, Merkel habe in der DDR „die Fahne hoch getragen“.

Für ihre Promotionsarbeit mußte Merkel – wie in der DDR üblich – auch eine Abschlußarbeit zur kommunistischen Ideologie anfertigen. Merkel hatte ihre Promotionsnoten zunächst geheimhalten wollen. Doch der Spiegel hatte mit Erfolg auf Aktenauskunft geklagt. Resultat: Die Kanzlerin soll in Marxismus-Leninismus lediglich ein „genügend“ erhalten haben, während ihre Physik-Leistung sehr gut war. Überprüfbar ist das nicht. Die Arbeit gilt als verschollen. Eine Kopie habe sie nicht, sagt Merkel selbst dazu. Ein Akademie-Mitarbeiter hingegen hat anderes in Erinnerung. Demnach habe Merkel ein reges Interesse am Marxismus-Leninismus gezeigt. Wegbegleiter halten ihr eine Nähe zum SED-Regime vor. Hinzu kommt, daß die Kanzlerin an der Akademie der Wissenschaften zum Leitungskreis der FDJ gehörte und als Sekretärin für Agitation und Propaganda gewirkt hatte. Ihre Zuständigkeiten: Politische Bildung und die Vermittlung des Marxismus-Leninismus.

Merkel selbst sagt, sie habe in der FDJ lediglich Kulturarbeit betrieben, Theaterkarten besorgt. Bei ihrem damaligen Gruppenleiter Hans-Jörg Osten hört sich das anders an. Demnach sei sie an der Akademie als FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda tätig gewesen. Zwar könne er sich nicht mehr genau an die Bezeichnung erinnern. Dem Sinn nach sei es jedoch genau diese Tätigkeit gewesen. Überprüfbar ist auch das nicht. Die FDJ-Unterlagen sind ebenfalls verschwunden.

In der Wendezeit schließt sich Merkel, die ursprünglich mit der SPD sympathisierte, dem Demokratischen Aufbruch an. Sie wird Pressesprecherin des Vorsitzenden Wolfgang Schnur. Ein Mann, der zu DDR-Zeiten eng mit Horst Kasner zusammenarbeitete. Und der als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt werden sollte.

Als nach dem 18. November 1990 die CDU als Sieger aus der ersten freien DDR-Volkskammerwahl hervorgeht, wendet sich Merkel der Union zu. Sie wird stellvertretende Regierungssprecherin. Berufen von jenem Mann, dessen Vater zu DDR-Zeiten ebenfalls eng mit Horst Kasner zusammenarbeitete: Lothar de Maizière. Heute betreibt de Maizière eine Anwaltskanzlei gegenüber vom Pergamon-Museum in Berlin. Die Bewohnerin im Stockwerk über ihm ist heute Bundeskanzlerin ...

 

Die Karriere der Angela Merkel

Angela Merkel wird am 17. Juli 1954 als Tochter von Horst und Herlind Kasner in Hamburg geboren.  Erste politische Erfahrungen sammelt  sie bereits während ihrer Zeit an der Akademie der Wissenschaften zwischen 1978 und 1989. Als Sekretärin für Agitation und Propaganda gehört sie zum Leitungskreis der FDJ. 1989 tritt sie dem Demokratischen Aufbruch bei und arbeitet als Pressesprecherin für den Vorsitzenden Wolfgang Schnur. Nach der DDR-Volkskammerwahl vom 18. März 1990 wird sie vom DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière zur stellvertretenden Regierungssprecherin ernannt.

Nach der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 wird sie zunächst Ministerialrätin im Bundespressesamt. Im Zuge der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 zieht sie als direkt gewählte Abgeordnete für den Wahlkreis Stralsund-Rügen-Grimmen in den Bundestag ein und wird von Bundeskanzler Helmut Kohl zur Bundesministerin für Frauen und Jugend ernannt. Nach dem Ausscheiden Lothar de Maizières aus der Politik aufgrund der Enthüllung seiner Stasi-Vergangenheit wird Merkel bereits ein Jahr später stellvertretende Bundesvorsitzende. 1993 übernimmt sie den CDU-Landesvorsitz in Mecklenburg-Vorpommern, 1994 schließlich das Bundesumweltministerium.

1998 wird Merkel CDU-Generalsekretärin, zwei Jahre später infolge der Parteispendenaffäre schließlich CDU-Bundesvorsitzende. Nach Edmund Stoibers gescheiterter Kanzlerkandidatur übernimmt sie 2002 von Friedrich Merz den Fraktionsvorsitz. 2005 bildet sie mit der SPD eine Große Koalition und wird zur Bundeskanzlerin gewählt. 2009 wird sie im Amt bestätigt.

Foto: Angela Merkel im Zentrum der Macht, dem Bundeskanzleramt in Berlin: Wer ist die Frau, die den Kurs der Union stetig weiter nach links verschiebt?

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