© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Prognos-Studie verspricht Milliarden-Entlastung der Steuerzahler
Zankapfel Mindestlohn
Jens Jessen

Vor drei Jahren wandten sich sieben Chefs von Wirtschaftsforschungsinstituten mit einem düsteren Appell im Handelsblatt an die deutsche Öffentlichkeit – doch sie warnten nicht etwa vor dem drohenden Crash, sondern vor Plänen der Großen Koalition, branchenbezogene Mindestlöhne zu erlauben. Lohnuntergrenzen in vielen Branchen sind inzwischen Realität, doch die an die Wand gemalten „erheblichen Beschäftigungsverluste“ sind ausgeblieben – trotz Weltfinanzkrise. Das Basler Prognos-Institut hat nun in einer Studie die Auswirkung von flächendeckenden Mindestlöhnen für den Fiskus untersucht. Das Ergebnis: Die öffentlichen Kassen könnten bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro, von dem ungefähr fünf Millionen Menschen profitieren würden, um über sieben Milliarden Euro entlastet werden.

Der Binnenkonsum und die Umsatzsteuer würden steigen, die Sozialstaatsleistungen verringerten sich, staatliche Zuschüsse fielen weg. Bei zwölf Euro Mindestlohn betrage der fiskalische Gewinn sogar 24,4 Milliarden Euro – theoretisch. Denn bei etwa 15 Millionen Arbeitnehmern, die bislang weniger als zwölf Euro pro Stunde verdienen, würden viele Arbeitgeber vor die Wahl gestellt, zwölf Euro Mindestlohn zu zahlen oder ihre Mitarbeiter zu entlassen. Beschäftigungseffekte haben „nicht im Fokus der Untersuchung“ gestanden, gesteht Prognos ein. Aber ohne Einbeziehung aller Effekte verlieren die Berechnungen jeglichen Wert. Eine Begrenzung der Untersuchung auf Mindestlöhne, die höchstens zehn Prozent der Arbeitnehmer umfaßt, wäre ehrlicher gewesen.

Die Studie wäre auch zu vernünftigen Ergebnissen gekommen, wenn sie die schrittweise Annäherung an den Mindestlohn untersucht hätte, der keine negativen Beschäftigungseffekte verursacht. In Großbritannien wurde der Mindestlohn 1999 eingeführt. Vier bis sechs Prozent der Beschäftigten profitieren davon (derzeit 5,93 Pfund, umgerechnet 6,66 Euro). Negative Beschäftigungswirkungen sind in keiner der vielen Studien nachgewiesen. In den USA hat ein Forscherteam des Berkeley-Professors Michael Reich zwischen 1990 und 2006 die Beschäftigungswirkung von Mindestlöhnen (derzeit 7,25 Dollar/4,91 Euro) untersucht. Harvard-Professor Lawrence Katz würdigte die Langzeituntersuchung als eine der besten Mindestlohn-Studien der vergangenen Jahre.

Reich kommt zum Ergebnis, daß keine Erhöhung der Mindestlöhne Arbeitsplätze beseitigt hat. Wenn ein US-Bundesstaat den Mindestlohn erhöhte, stiegen auch die Einkommen der betroffenen Beschäftigten. Es kam zu keinen Entlassungen wegen steigender Kosten. Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bewertet die Berkeley-Studie als „wegweisend“. „Wenn bei der Höhe des Mindestlohns nicht überzogen wird, sehe ich nur Vorteile.“

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