© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Ein Leben auf Pump
Finanzpolitik: Der Bund treibt die Kommunen in die Schulden / Auslagerung von Wasserwerken und Friedhöfen
Paul Leonhard

Deutschlands Städte haben ein Defizit von fast zehn Milliarden Euro aufgehäuft. „Sie sind so tief in die roten Zahlen gerutscht, wie noch nie“, klagt Petra Roth, Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main und Präsidentin des Deutschen Städtetages: „Eine große Zahl von Kommunen besitzt keinerlei Einsparmöglichkeiten mehr und muß schlichtweg auf Pump leben.“ Mehr als die Hälfte der Kommunen bezeichnet die eigene Finanzsituation als „schlecht“ oder „sehr schlecht“, lediglich drei Prozent mit gut.

Trotz verbesserter Wirtschaftslage und steigender Steuereinnahmen sei fast jede zweite Kommune der Auffassung, daß sich die eigene Lage 2010 verschlechtert habe, teilte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young nach der Befragung der Stadtkämmerer von 300 Städten mit mindestens 20.000 Einwohnern mit. Danach haben für dieses Jahr 32 Prozent aller Kommunen ein Haushaltssicherungskonzept beschlossen, sie müssen sich ihre Finanzplanung von der zuständigen Oberbehörde genehmigen lassen.

Die Situation ist oft nicht selbstverschuldet, sondern Ergebnis der Bundespolitik. So stiegen die vom Staat verordneten Sozialausgaben der Kommunen im Jahr 2010 erneut um zwei Milliarden Euro. Sie erreichten damit einen Spitzenwert von mehr als 42,2 Milliarden Euro. Auch für das laufende Jahr rechnet eine Mehrzahl der Kommunen mit einem Anstieg der Sozialausgaben wie den Kosten für die Unterkunft beim Arbeitslosengeld II (Hartz IV).

Vor einer zu großen Thematisierung der Problemfälle warnt Marc Gnädinger vom hessischen Finanzministerium in einem Referat im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung: Das führe dazu, daß „kommunale Mandats- und Verantwortungsträger in eine psychologische Vergeblichkeitsfalle geraten und an eine Konsolidierung des Haushaltes ihrer Heimat aus eigener Kraft nicht mehr glauben“. Sinnvoller sei es, sich vertieft mit schuldenfreien Kommunen zu beschäftigen. Inzwischen veröffentlichen drei statistische Landesämter regelmäßig Daten zu schuldenfreien Kommunen und lösen so in den Medien eine positive Berichterstattung aus.

Um sich anzusehen, wie andere mit der Krise umgehen und ungegangen sind und dann handeln, hat der Bürgermeister von Großenlüdern, Werner Dietrich, mit seinen Räten das schuldenfreie Rednitzhembach bei Nürnberg besucht. Die fränkische 7.000-Einwohner-Gemeinde hat sich ihre Schuldenfreiheit zwischen 1996 (minus fünf Millionen Euro) und 2003 in einem schmerzhaften Prozeß erarbeitet. Dabei wurde auf ein zentrales Gebäude-Management und die Auslagerung von Wasserwerken, Abwasser- und Kanalwirtschaft, Friedhofswesen und Grünanlagen in eine städtische GmbH gesetzt.

Einen „Königsweg zur Schuldenfreiheit“ gebe es nicht, sagt Gnädinger. Jede Kommune habe andere Ausgangsvoraussetzungen, andererseits würden sich aber die eingeschlagenen Wege in vieler Hinsicht ähneln. Konkret zählt Gnädinger die Einbindung der Bürger in den Entschuldungsprozeß und die stete Betonung einfacher Botschaften wie „nur das ausgeben, was wir einnehmen“ auf. „Der negative Gesamtwert wurde im Westen des Landes verursacht“, sagt der hessische Ministerialreferent.

Die Kommunen in allen neuen deutschen Flächenländern hätten im Krisenjahr 2009 im Durchschnitt Überschüsse und keine Defizite erzielt. Abgesehen vom Saarland gibt es in allen Flächenländern schuldenfreie Kommunen, mit Dresden und Düsseldorf sogar zwei kreisfreie Städte. Dresden war 2006 schuldenfrei geworden, nachdem es nach kontroverser Debatte im Stadtrat rund 48.000 kommunale Wohnungen an den Immobilienkonzern Gagfah verkauft hatte.

Ob das eine richtige Entscheidung war, ist heute wieder umstritten: Wegen angeblichen Vertragsbruchs bei der ausgehandelten Sozialcharta prozessiert die Stadt zur Zeit gegen den Investor. Dresden fordert rund 1,08 Milliarden Euro. Auch die zahlreichen Cross-Border-Leasing-Verträge (CBL, JF 50/08) hängen wie ein Damoklesschwert über vielen Kommunen. Dabei wurde in der allgemeinen Privatisierungseuphorie seit Mitte der neunziger Jahre ein Teil städtischer Infrastruktur für 25 bis 99 Jahre an einen US-Investor verkauft und umgehend wieder zurückgemietet – doch 2004 stopfte der US-Kongreß die dabei ausgenutzten Steuerschlupflöcher. 2008 machte die Finanzkrise aus den kurzfristigen Millioneneinnahmen drohende Millionenverluste. Auch dubiose Zins-Swap-Geschäfte (JF 11/10) könnten die Haushalte enorm belasten.

Derweil dürfte die Zahl schuldenfreier Gemeinden auch aus anderen Gründen weiter sinken. „Wir gelangen sehenden Auges in die Schuldenfalle“, sagt Andreas Grotendorst, Bürgermeister von Raesfeld, einer von derzeit neun schuldenfreien Kommunen in Nordrhein-Westfalen, die im Februar beim Innenminister in Düsseldorf vorstellig wurden. Aufgeschreckt hatte sie ein Gesetzesentwurf, nach dem sie viel weniger Geld vom Land als andere erhalten sollten.

Trotz Schuldenfreiheit kann nämlich keine der neun Kommunen einen ausgeglichenen Haushalt für 2011 vorweisen. Insbesondere bei den fiktiven Steuerhebesätzen und beim Soziallastenausgleich bestehe Korrekturbedarf, findet der Rekener Bürgermeister Heiner Seier. In den mitteldeutschen Gemeinden kommt noch das Problem der weiten Fläche, der hohen Arbeitslosigkeit und des überproportionalen Anteils von Rentnern, der hohen Abwanderungsquote junger Menschen und des niedrigen Bruttoinlandsprodukts hinzu, wie Heike Böhm, SPD-Bürgermeisterin der Stadt Rothenburg/Oberlausitz, in der örtlichen Lokalzeitung beklagt. Punktuelle Hilfen, wie die Ausweitung des Förderangebots der KfW-Bankengruppe  für die energetische Gebäudesanierung im kommunalen Bereich, ändern an der Notlage wenig.

Man könne den gesetzlichen Pflichten kaum noch nachkommen, „ohne dem Bürger noch tiefer in die Tasche zu greifen“, betont der parteilose Grotendorst. Tatsächlich plant fast jede dritte Stadt weitere Steuer- und Gebührenerhöhungen. Gegenüber Ernst & Young nannten die Stadtkämmerer vor allem Grundsteuer, Kindergarten- und die Friedhofsgebühren.

Internetportale zu den Kommunalfinanzen:  www.wegweiser-kommune.de  www.haushaltssteuerung.de  www.schuldenfreie-kommunen.de

Foto: Schuldenentwicklung bei den deutschen Städten und Gemeinden: Der Verkauf öffentlichen Eigentums bringt meist nur kurzfristige Entlastung

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