© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Den Zug zum neuen Deutschland verpaßt
Ein Altgenosse bittet zum Interview: Eine fruchtlose Befragung des Wittenberger Pfarrers Friedrich Schorlemmer
Jörg-Bernhard Bilke

Da steht er nun in einer Reihe mit den entmachteten Vertretern der DDR-Nomenklatura: mit MfS-Generaloberst Markus Wolf, mit Hermann Kant, dem Präsidenten des Schriftstellerverbands 1978/90, mit den parteitreuen Schreibern Eva Strittmatter und Erik Neutsch, mit SED-Politbüromitglied Hans Modrow, dem letzten Ministerpräsidenten einer nichtgewählten DDR-Regierung!

Der Interview-Band mit Friedrich Schorlemmer ist der achte innerhalb dieser Buchreihe, die von Markus Wolf 2007 programmatisch eröffnet wurde und die im DDR-Nostalgie-Verlag „Das Neue Berlin“ erscheint. Beide Autoren, den General und den Pfarrer, hatte ein Mann zum Gespräch gebeten, der 1948 in Ohrdruf/Thüringen geboren wurde und heute in Haartracht wie Bartwuchs den jungen Karl Marx aus den wilden Jahren vor 1848 imitiert.

Zu DDR-Zeiten war Hans-Dieter Schütt Chefredakteur der FDJ-Zeitung Junge Welt und wurde im Herbst 1976 auch hierzulande bekannt, als er im SED-Organ Neues Deutschland, wo er heute als Kulturredakteur arbeitet, einen schlimmen Schmähartikel gegen Wolf Biermann veröffentlichte und damit die ideologische Munition zur Ausbürgerung des Liedermachers“ lieferte. In den zwei Jahrzehnten nach dem Mauerfall von 1989 soll er in sich gegangen  sein und dem SED-Staat abgeschworen haben, so beschreibt er es jedenfalls 2009 in seinem Buch „Glücklich beschädigt“, aber noch heute sprießt ihm der untergegangene DDR-Sozialismus aus allen Knopflöchern, wie seine verquollene Bucheinleitung offenbart.

Wer sich als neugieriger Leser nun dem in sechs Kapitel aufgegliederten Interview-Text zuwendet, sieht sich auch hier in seinen Erwartungen getäuscht. Gehofft hat er auf ein fruchtbares Streitgespräch zwischen einem atheistisch erzogenen DDR-Funktionär und einem, trotz aller Verfolgung, standhaft und friedfertig gebliebenen Theologen, der eine Menge zu erzählen hätte von den Nachtseiten des SED-Staats. Geboten aber wird seitenweise eine fruchtlose, vom Blatt abgelesene Fragerei, auf die der Befragte dann oft nicht einzugehen bereit ist.

Wer die Lebensdaten Friedrich Schorlemmers studiert, kann sich ausrechnen, daß er von Kindesbeinen an am Fortkommen in der Schule und in der Berufswahl behindert wurde. Als ältestes von sieben Kindern wurde er 1944 in Wittenberge/Prignitz geboren und wuchs in Werben/Altmark auf. Nach der zehnten Klasse wurde ihm der Besuch der „Erweiterten Oberschule“ und somit das Abitur verweigert, das er dann mühselig in zwei Jahren an der Volkshochschule nachholte, um in Halle 1962/67 Theologie zu studieren. Der Berufsweg „Pfarrer“ war damit vorgezeichnet, obwohl er gerne auch Germanistik studiert hätte. Von 1978 an, ausgenommen die sieben Jahre als Studentenpfarrer in Merseburg, bis zur Pensionierung 2007 war er ununterbrochen in Wittenberg, der Stadt Martin Luthers, tätig: als Dozent am „Evangelischen Predigerseminar“, als Pfarrer an der Schloßkirche und als Studienleiter der „Evangelischen Akademie“. Daß die „evangelischen Pfarrhäuser wahrlich Kulturträger“ waren, wie er bekennt, und damit auch Auffangstationen für kritische Intellektuelle, hat sein Vater ihm vorgelebt. Damit freilich kann sein Widerpart Hans-Dieter Schütt nichts anfangen. Als der Befragte Gedichte Gottfried Benns (1886–1965) zitiert, auch er ein Pfarrerssohn, dessen lyrisches Werk im SED-Staat verboten war , muß er passen. Das Buch Albrecht Schönes „Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne“ (1958), auch auf die Pfarrhäuser in Mitteldeutschland anwendbar, ist dem studierten Theaterwissenschaftler völlig unbekannt.

Hier nämlich hätte eine Diskussion einsetzen müssen über protestantische DDR-Pfarrer im Widerstand oder als inoffizielle Zuträger der Staatssicherheit oder schließlich auch als hauptamtliche Offiziere, die im „Klassenauftrag“ Theologie studierten, um die Kirche von innen zu zersetzen. Material für eine solche Diskussion liefert Friedrich Schorlemmer in rauhen Mengen: wie seine Mutter im Januar 1946 von marodierenden „Rotarmisten“ überfallen wurde; wie er schon als Kind immer wieder „mit Verhaftungen in Nachbarschaft und Freundeskreis“ konfrontiert wurde; welchen Konflikten er ausgesetzt war, weil christliche Eltern ihre Kinder nicht konfirmieren lassen wollten, um ihnen den Berufsweg nicht zu verbauen; wie seine Tochter in der Schule eine Hausarbeit über „Rosa Luxemburg und die Demokratie“ schrieb und dann Schwierigkeiten bekam; wie noch im September 1989 die Staatssicherheit ein „Zersetzungsprogramm“ gegen ihn ausarbeitete, „dessen Kälte einen gefrieren läßt“. Hier hätte überall gezielt nachgefragt werden müssen, aber der ND-Redakteur unterbricht den Redefluß mit dummen Fragen wie: „Empfinden Sie sich als Kleinbürger?“

Die Kritik an diesem Pfarrer, der durch die Verhältnisse gezwungen wurde, als Politiker zu agieren, muß an seinem Verhalten nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 einsetzen. Den Untergang des SED-Staates hat er zweifellos begrüßt und die damit verbundene Demokratisierung der DDR-Gesellschaft, nicht aber die Wiedervereinigung. Für ihn wie für Christa Wolf sollte damals der „Aufbruch in eine neue DDR“ beginnen. Den Aufruf vom 26. November 1989 „Für unser Land“ hat er mitunterzeichnet. Wie das freilich in der Praxis aussehen sollte, blieb ungeklärt, spätestens am 18. März 1990 haben die DDR-Wähler, die eine rasche Wiedervereinigung wollten, diesen Träumen ein schmerzloses Ende bereitet. Ging man wirklich davon aus, die reiche Westrepublik finanzierte noch einen zweiten „Traum vom Sozialismus“?

 

Dr. Jörg Bernhard Bilke war von 1983 bis 2000 Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn

Hans-Dieter Schütt, Friedrich Schorlemmer: Zorn und Zuwendung. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2011, gebunden, 240 Seiten, 16,95 Euro

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