© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Atomstrom, den niemand will
Im russischen Teil Ostpreußens ist ein Kernkraftwerk im Bau / Auch Litauen baut neues AKW
Hartmut Lohmann

Der von der schwarz-gelben Koalition mittels Schleudersitz geplante Ausstieg aus der Kernenergie mindert die Bedrohung durch diese Risikotechnologie keineswegs, denn in den Niederlanden, Belgien, Frankreich, der Schweiz und der Tschechei bleiben die Reaktoren in Betrieb. Auch die Energiepolitik jenseits der Oder läßt das Gefahrenpotential für den Berliner Raum anwachsen. Fast autistisch unbeeindruckbar, setzt Rußland auch nach der Fukushima-Katastrophe weiter auf Atomstrom. Augenblicklich befinden sich im Moskauer Imperium 18 AKW in der Konzeption oder im Bau, die bis 2020 sukzessive ans Netz gehen sollen.

Eines davon entsteht, nur neun Autostunden von Berlin entfernt, nahe der alten Reichsgrenze in Ostpreußen. In Lengwethen (Lunino) im Kreis Ragnit (Neman) schütten 600 Arbeiter derzeit das Fundament für den ersten Reaktorblock auf. Eine an Ort und Stelle installierte, gewaltige Mischanlage liefert ihnen den Beton. Das Areal in der Nordostecke der russischen Exklave ist seit der Grundsteinlegung im vorigen Jahr großräumig zerniert. Zufahrtsstraßen wurden gebaut, Feldwege, die zu dicht ans Gelände heranführen, hingegen gesperrt, eine Bahnverbindung nach Tilsit (Sowjetsk) wird erneuert. 2016 soll der erste Block in Betrieb gehen, 2020 ein zweiter folgen. Beide zusammen sind ausgelegt auf 2.300 Megawatt (MW).

In der infrastrukturell seit 1945 extrem vernachlässigten Grenzregion zum heutigen EU-Mitglied Litauen könnte die Anlage einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung anstoßen. Während der Bauphase dürften, alle Königsberger Zulieferer berücksichtigt, 10.000 Menschen eingespannt sein. Von der Inbetriebnahme an rechnet man dauerhaft mit 2.500 Arbeitsplätzen. Ob das Projekt wirklich in neun Jahren realisiert sein wird, bezweifeln Fachleute, denen der Terminkalender zuviel Optimismus ausstrahlt.

Zudem weisen sie auf ein paradoxes Problem hin, das den Erbauern schon heute Kopfzerbrechen bereiten müßte: Strom aus Ostpreußen könnte in unseren energiehungrigen Zeiten nicht genügend Abnehmer finden. Denn von den für 2020 avisierten jährlichen 17,4 Milliarden Kilowattstunden benötigt die Oblast Kaliningrad nur ein Drittel. Es bliebe der profitable Verkauf des Überhangs ins Baltikum und nach Deutschland. Doch Litauen hat bereits Bedenken gegen das AKW Lunino angemeldet und 2010 gegen den Bau eine Resolution im Europarat eingebracht, die vom tiefen Mißtrauen gegen russische Technologie zeugt.

Wilna fordert, solche Großprojekte nur einvernehmlich mit den Nachbarn und gemäß internationaler Normen umzusetzen, was Rußland als inakzeptable Reklamation eines litauischen oder gar Brüsseler Vetorechts ignoriert. Moskau hält jedoch soviel ökologische Rücksicht für ratsam, um zu betonen, die Lunino-Blöcke entsprächen modernsten Sicherheitsstandards und hätten nicht das geringste mit dem störanfälligen Siedewasserdruckröhren-Reaktor Tschernobyls zu tun. Diese Versicherung soll auch durch die Beteiligung westlicher Firmen untermauert werden. Doch die Siemens AG, eingeladen zu einer 49-Prozent-Partnerschaft, reagierte bislang sowenig auf russische Offerten wie andere Investoren, mit Ausnahme des allerdings auch nur Interesse bekundenden Prager Energiekonzerns ČEZ.

Litauen wird ab 2016 sicher keinen Strom aus Ostpreußen abnehmen. Denn im litauisch-lettisch-weißrussischen Dreiländereck baut es gerade selbst das AKW Visaginas. Es ersetzt den 1983 an Netz gegangenen und Ende 2009 auf EU-Druck hin stillgelegten Sowjet-Meiler Ignalina. Visaginas soll ab 2015 mit 1.100 MW auch Lettland, Estland und Polen versorgen. Da bleibt den russischen „Atomschiki“ nur die deutsche Kundschaft. Schon fabuliert man von einer Hochspannungsleitung quer durch die Ostsee, von Königsberg nach Rügen. Auch da könnte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben. Denn mit fundamentalistischen deutschen Aversionen auch gegen importierten Atomstrom kalkulieren solche von ungebrochener Machbarkeitsideologie zeugenden Zukunftsszenarien natürlich nicht.

Foto: Stillgelegtes Sowjet-AKW in Ignalina: Litauen gegen russisches Kernkraftwerk in Ostpreußen

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