© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Strafe muß weh tun
Justiz: In Deutschland vollzieht sich ein Wandel vom Tat- zum Täterstrafrecht
Günter Bertram

Mit den jüngsten Fällen gewalttätiger jugendlicher U-Bahn-Schläger ist die Frage nach dem Sinn und Zweck von Strafe brandaktuell geworden. Eine von mehreren möglichen Antworten ist zwei Jahrtausende alt. Sie stammt vom römischen Philosophen Seneca und lautet: „Kein Verständiger straft allein früherer Missetat wegen, sondern um dergleichen für die Zukunft zu verhindern.“ Mit diesem so modern klingenden Satz scheint ein anderes, noch tausend Jahre älteres Prinzip überwunden und erledigt zu sein: die Vergeltung („Talion“):  „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, wie es im 2. Buch Mose heißt. Aber Vorsicht: Vielleicht ist Seneca gar nicht so progressiv wie es scheint und das Talionsprinzip moderner als man glaubt.

Damit sind wir schon mitten im strafrechtlichen Theorienstreit des 20. Jahrhunderts und bei der Praxis der Gegenwart. „Talion“ war keineswegs der Ausfluß von Rachsucht und archaischer Maßlosigkeit, wie oft behauptet wird, sondern ein Prinzip zur Einhegung, Begrenzung und Zivilisierung maßloser Rache, die Sippen und Familien ausrotten konnte, also ein beachtlicher Fortschritt. Modern auch darin, daß sie ein rechtliches Verhältnis herstellte zwischen einem Sachverhalt und dessen Folgen („Tatbestandsmäßigkeit“).

Senecas so modern anmutendes Postulat des Rechtsfriedens und der Sicherheit („Prävention“) setzt den wechselseitigen Bezug von Anlaß und Folge voraus, wie die biblische „Talion“ ihn geprägt hatte. Auch das heutige Strafrecht knüpft mit seiner Drohung nirgendwo anders als bei der verbotenen Handlung an und tut das mit seinen hundert und mehr Tatbeständen wie Diebstahl, Betrug, Brandstiftung, Raub, Totschlag. Nach ihnen – nicht nach künftigen Tätern – richtet sich die gesetzlich bestimmte Strafe, die je nach Tatbestandsschwere (von Beleidigung über Raub bis Mord) und natürlich nicht nach „Tätertypen“ unterschiedlich streng ausfällt.  Daraus folgt, daß das Strafrecht  dem „Rechtsgüterschutz“ (Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre, Eigentum) dient, was nichts anderes heißt als dem Schutz des „Trägers“ dieser Güter –  schlichter: dem Opferschutz.

Diese zwingende Erkenntnis bleibt aber abstrakt, denn erst im konkreten Strafausspruch des Richters gewinnt die Norm ihr Leben. Die Drohung des Gesetzes ist nämlich nicht punktgenau, sie setzt nur einen Rahmen (etwa „von drei Monaten bis zu fünf Jahren“), trifft also für den je aktuellen Fall keine Bestimmung. Das eröffnet ein weites richterliches Rechtsfolgeermessen. Wie er von ihm Gebrauch zu machen hat, darüber finden sich im Gesetz zwar einige – vernünftige – Grundsätze („Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.“), die aber praktisch wenig mehr sind als Gesichtspunkte, mit denen ein Richter, der es darauf anlegt, ziemlich frei schalten und walten kann.

Der reinen Schuldvergeltung ohne „rationalen“ Zweck redet heute keiner mehr das Wort. Aber damit ist wenig gewonnen, denn bei den unterschiedlichen Auffassungen über Prävention beginnt der Streit. Soll jetzt, im letzten der gerichtlichen Schritte, der Täter in den Mittelpunkt aller Zuwendung rücken, damit die konkrete Sanktion ganz auf ihn, seine Resozialisierungsbedürfnisse und seine Prognose zugeschnitten wird? Und wenn schon: was heißt das? Verlangt die „Spezialprävention“ eine milde Sanktion oder gerade eine deutliche, schmerzhafte? Oder steht die „Generalprävention“ – die Grundidee des Strafrechts – wieder an erster Stelle: also das Schutzinteresse aller potentiellen künftigen Opfer? Seneca dürfte just das gemeint haben. Daß die Praxis, zumal die der Jugendgerichte, sich oft auf die Spezialprävention in dem Sinne kapriziert, daß sie den Beschuldigten verständnisinnig in Watte packt, ist längst notorisch und wird mit Recht immer wieder gegeißelt. Freilich hat solche Laxheit oft auch andere als straftheoretische Gründe; aber das steht auf einem anderen Blatt, über das man bei der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig genügend lesen kann.

Der Strafzweck unserer geltenden Ordnung kann nie und nimmer in der Resozialisierung liegen. Denn dann würde das Strafgesetz zunächst radikal geändert werden müssen – dahin, daß es nicht sachliche Tatbestände, sondern Tätertypen  beschreibt, mit ihren je unterschiedlichen Sozialisations- und Behandlungsbedürfnissen. Der Richter wäre dann fehl am Platze, da die Zwangstherapie, die an die Stelle der Strafe träte, vom Sachverständigen im weißen Kittel anzuordnen und zu leiten wäre. Wo früher Strafrecht war, darüber würde wie ein Ölteppich sich all das ergießen, was das Bundesverfassungsgericht unlängst zur Sicherungsverwahrung sich vom Herzen geschrieben hat.

Der Gesetzgeber steht unter der Fuchtel des Zeitgeists und dieser scheut die Klarheit. Die Menge der Straftatbestände schwillt an, ihre Deutlichkeit nimmt ab. Das ist am Beispiel des Volksverhetzungsparagraphen hier wiederholt demonstriert worden (JF 45/10). Darin liegt zugleich der schleichende Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht, ein Verfassungsverstoß ersten Ranges! Ist diese Erosion des Rechtsstaats schon unumkehrbar?

 

Günter Bertram war Vorsitzender Richter am Landgericht Hamburg.

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