© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Wolfskinder im Palais an der Spree
Christian Vollradt

Direkt gegenüber dem Ostportal des Reichstags liegt am Spreeufer das ehemalige Reichstagspräsidentenpalais. Es ist heute Sitz der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, jenem überparteilichen Verein von aktuellen und ehemaligen Abgeordneten.

Durch die offene Tür zum Balkon weht eine vorsommerliche Brise in den Salon „Berlin“, der kristallene Lüster wiegt sich leicht. Butler in weißer Livree reichen kühle Getränke. Von der Wand blickt ernst Otto von Bismarck auf einem Gemälde Franz Lenbachs; daneben, getrennt durch eine Tür, ein Bild des ärgsten parlamentarischen Widersachers des Eisernen Kanzlers, Ludwig Windthorst.

An diesem sonnigen Montagvormittag hält sich jedoch nicht das politische Berlin zum Zwecke vertraulicher Hintergrundgespräche in den gediegenen Räumen des Palais auf, sondern eine munter-aufgekratzte Senioren-Reisegruppe aus Litauen, etwa vierzig überwiegend weibliche Teilnehmer. Daß sie ein wenig Klassenfahrt-Stimmung verbreiten, kommt nicht von ungefähr: Denn trotz ihres Alters – in der Mehrheit sind sie um die 70 Jahre – nennen sie sich noch Kinder, genauer Wolfskinder (JF 30/10). In den Nachkriegswirren irrten sie als Waisen durch die Wälder Ostpreußens, schlugen sich unter unglaublichen Entbehrungen durch und mußten ihre deutsche Herkunft verleugnen, als sie im sowjetisch besetzten Litauen seßhaft wurden. Nun sind sie mit ihrem Verein „Edelweiß“ nach Berlin gereist, weil die Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen (BdV) an einen deutschen Ex-Politiker verliehen wird, der sich besonders rührig für die Wolfskinder eingesetzt hat: Wolfgang Freiherr von Stetten, früherer CDU-Bundestagsabgeordneter aus Württemberg. BdV-Präsidentin Erika Steinbach lobt die Verdienste des nun mit der höchsten Auszeichnung ihres Verbandes Geehrten. Als jemand, dessen Familie seit 900 Jahren an ein und demselben Ort ansässig ist, sei von Stettens humanitäres Engagement für diese Opfer der Vertreibung, die „ihr Schicksal für uns mit erlitten hatten“, besonders hervorzuheben. Für die Zuhörer aus Litauen übersetzt eine Dolmetscherin, manche haben nun Tränen in den Augen.

In seiner Dankesrede nimmt der Geehrte hier, im Kreise mutmaßlich Gleichgesinnter, kein Blatt vor den Mund: Der deutsche Staat habe im Umgang mit den Wolfskindern nach 1991 versagt, seine Pflichten versäumt, so von Stetten. Aber gemeinsam mit Vertriebenenverbänden habe er versucht, die Not ein wenig zu lindern. Mit Blick auf die Vertreibung der Deutschen stellt der Baron fest: Unrecht bleibe Unrecht, auch wenn der Sieger die Gesetze schreibt. Selten habe ein Staat so wie Deutschland nach einem verlorenen Krieg einen solch hohen Blutzoll gezahlt, selten soviel Gebiete verloren. Und: „Kein Staat hat das Recht, uns vorzuschreiben, wie wir daran erinnern und wer im Vorstand einer Stiftung für diese Erinnerung sitzt.“

Am Schluß überreichen die Teilnehmer ein Buchpräsent an Erika Steinbach, unterschrieben von allen Wolfskindern; selbst von denen, die ihr hartes Schicksal zu Analphabeten gestempelt hat.

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