© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Das goldene Kalb der Moderne
Der Westen und die arabische Revolution: Wenn Diktatoren fallen, gibt es einige Gewinner und viele Verlierer
Patrick J. Buchanan

Einen Monat vor der Invasion des Irak gab der damalige anglikanische Bischof von Jerusalem, der Palästinenser Riah Abu el-Assal, dem damaligen britischen Premierminister Tony Blair folgende Warnung mit auf den Weg: „Sie tragen die Verantwortung dafür, daß es im Irak, der Wiege Abrahams, keine Christen mehr geben wird.“

Des Bischofs düstere Prophezeiung hat sich erfüllt. „Nach fast zweitausend Jahren“, steht dieser Tage in der Financial Times zu lesen, „sind sich die irakischen Christen nun bewußt, daß sie kurz vor dem Aussterben stehen. Manche ihrer Prälaten raten sogar zur Flucht.“

Zu Zeiten des gottlosen Despoten Saddam Hussein standen die Christen unter Schutz. Mit der amerikanischen Befreiung brach die größte Unbill über sie herein. Seit 2003 sind viele Tausende von ihnen vor Terror und Verfolgung in ihrer Heimat nach Syrien geflohen, wo Präsident Baschar al-Assad ihnen Zuflucht bot. Laut Financial Times und Washington Post droht den syrischen Christen, deren Geschichte ebenfalls zweitausend Jahre zurückgeht, nun im Falle eines Sturzes der Assad-Regierung in Damaskus ein Pogrom.

Zehn Prozent der syrischen Bevölkerung sind Christen. Sie sind zumeist beruflich erfolgreich und stehen gesellschaftlich dem alawitischen Regime nahe. Ein Beobachter in Beirut sagt: „Sie haben Angst, daß sie zusammen mit den Alawiten an die Wand gestellt werden, wenn das Regime unter dem Druck der sunnitischen Mehrheit fällt.“ Jahrzehntelang, so die Post, habe die Assad-Regierung „christliche Interessen beschützt, indem sie eine streng laizistische Politik betrieb und den Einfluß der Muslimbruderschaft einschränkte.“ Hafez al-Assad, der Vater des heutigen Regierungschefs, ließ um die 20.000 Anhänger der Bruderschaft umbringen, die 1982 eine Terrorkampagne und einen Aufstand in Hama anzettelten. Assad fuhr seine Artillerie auf und machte die Stadt dem Erdboden gleich.

Angesichts der steigenden Zahl der Todesopfer fällt es schwer, Sympathien für Assads Regime aufzubringen. Überdies würde sein Sturz einen Geldgeber der Hamas und der Hisbollah und einen engen Verbündeten des Iran beseitigen.

Trotzdem wäre US-Präsident Barack Obama gut beraten, nicht denselben Fehler zu begehen wie sein Vorgänger George W. Bush. Bevor er die syrische Revolution allzu vollmundig unterstützt, sollte er sich vor Augen führen, wie es der christlichen Minderheit in arabischen Ländern ergeht, wenn die muslimische Mehrheit nach jahrzehntelanger Unterdrückung an die Macht kommt. Im Irak nutzten die Schiiten ihre neu erkämpfte Freiheit, um Bagdad von Sunniten zu säubern, während al-Qaida die Christen ins Visier nahm. In Syrien kämen die Sunniten ans Ruder, wenn Assad und mit ihm die Alawiten gestürzt würden. Was wären die Folgen – für die syrischen Christen, für den Frieden, für uns? 

Die Assad-Regierung hat den 1973 erreichten Waffenstillstand bezüglich der Golan-Höhen eingehalten, auch wenn es im Libanon zu blutigen Scharmützeln zwischen Israelis und Syrien oder seinen Verbündeten kam. Würde ein sunnitisch dominiertes Syrien dasselbe tun?

Mit dem Sturz der Mubarak-Regierung in Ägypten kommt es immer wieder zu islamistischen Anschlägen auf koptische Christen. Wie wird es den Kopten ergehen, wenn die Muslimbruderschaft die Wahlen gewinnt und die Scharia in Ägypten Gesetzeskraft erlangt?

In seinem Werk „The Price of Revolution“ schlüsselte D. W. Brogan die großen Revolutionen, die den säkularen Westen so faszinieren, auf: Die Französische Revolution führte zum Königsmord, den September-Massakern, dem Pariser Terror-Regime, der Abschlachtung Hunderttausender Katholiken in der Vendée und den napoleonischen Kriegen, die fast zwanzig Jahre währten.

Die Abdankung des Zaren Nikolaus II. führte zur Diktatur von Lenin, Trotzki und Stalin, die tausendmal so viele Menschenleben kostete wie die Spanische Inquisition in 300 Jahren. Unter den bolschewikischen Mordopfern waren der Zar, seine Frau und fünf Kinder. Fünfzehn Jahre nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II., Herrscher über das Zweite Reich, begann Adolf Hitler mit dem Aufbau seines Dritten Reiches. Keine einzige Monarchie der Geschichte hat je so Schrecken über die Menschheit gebracht wie die Französische und die Russische Revolution – ganz zu schweigen von den Revolutionen Maos, Ho Chi Minhs, Fidel Castros und Pol Pots. Der Sturz des Schahs bescherte uns Ajatollah Khomeini.

In Amerika ist der „arabische Frühling“ mit Wohlwollen und Erleichterung begrüßt worden. Doch sollten wir uns darüber im klaren sein, daß dabei auch Menschen in die Freiheit entlassen werden, die diese Freiheit mißbrauchen werden, wie der konservative Vordenker Edmund Burke vor über 200 Jahren richtig erkannte: „Die Menschen sind für die politische Freiheit befähigt im genauen Verhältnis zu ihrer Bereitschaft, ihren Begierden moralische Ketten anzulegen; im Verhältnis, wie ihre Liebe zur Gerechtigkeit ihre Raubsucht übersteigt; im Verhältnis, wie die Richtigkeit und Nüchternheit ihres Urteils höher als ihre Eitelkeit und Anmaßung ist; im Verhältnis, wie sie eher geneigt sind, den Ratschlägen der Weisen und Guten, als den Schmeicheleien von Schelmen zu folgen. Die Gesellschaft kann nicht bestehen, ohne daß eine einschränkende Macht über den Willen und die Begierden irgendwo eingerichtet wäre, und je weniger von dieser Macht im Inneren ist, desto mehr muß von ihr im Äußeren vorhanden sein. Es ist in der ewigen Verfassung der Dinge angelegt, daß Menschen mit ungezügeltem Geist nicht frei sein können.“

Die Amerikaner, die 2,3 Millionen ihrer eigenen Bürger – 90 Prozent davon Männer – in Gefangenschaft halten, sollten das eigentlich wissen. Und überall im Mittleren Osten gibt es Millionen derart „ungezügelter Geister“, die keine Skrupel kennen, die Macht und Freiheit, die Mehrheiten in der Demokratie genießen, auszunutzen, um rivalisierende Minderheiten auszuschalten.

Wenn aber demokratische Gleichberechtigung im Maghreb und im Mittleren Osten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Stärkung der Muslimbruderschaft und zu Christenverfolgungen führen wird – warum unterstützen wir derartige Bestrebungen? Seit wann vergöttern wir die Demokratie, an die keiner unserer Vorväter glaubte, als Goldenes Kalb der Moderne?

 

Patrick J. Buchanan war mehrfach US-Präsidentschaftskandidat. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift „The American Conservative“.

Foto: Koptische Christen betrauern Opfer muslimischer Gewalt in Kairo (8. Mai): Nach dem Sturz Mubaraks nimmt die Gewalt gegen die Minderheit zu

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