© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Das Vertraute als Fremdes hören
Ein Reden wie von tausend Menschenstimmen: Gustav Mahler zum hundertsten Todestag
Jens Knorr

Zu Mahlers 150. Geburtstag im vorigen Jahr hatten die Klassik-„Spezialisten“ der Universal Music GmbH eine ganz besondere Geschäftsidee. Für eine CD-Box mit allen zehn Symphonien waren Musikhörer per Weltnetz aufgefordert, ihre favorisierten Interpretationen, ihre ideale Zusammenstellung vorzuschlagen. Mehr als 5.000 einzelne Bewertungen und Vorschläge sollen abgegeben und mehr als 400 ganze Ideal-Zyklen entworfen worden sein.

Nun, daß die ultimative „The People’s Edition“ eben jene Aufnahmen unter eben jenen Dirigenten in einem Pappkarton versammelte, die zufällig bei den konzerneigenen Labels Deutsche Grammophon und Decca unter Vertrag waren oder sind, war abzusehen. Doch eignet dem Vorgang ein durchaus bestürzendes Moment. Hatte Mahler einst prophezeit, daß seine Zeit kommen werde, so ließe sich hundert Jahre nach seinem Tode mit einigem Sarkasmus konstatieren, daß seine Zeit bereits wieder vergangen zu sein scheint. Mahler ist zu einem Klassiker, einem toten Hund geworden, sein Werk tief ins Repertoire eingesunken, degradiert zum Genußobjekt von Connaisseurs, die sich ihr symphonisches Lieblingsmenü daraus zusammenstückeln. Unter dem Wie verschwindet das Was, unter der Interpretation das Interpretierte.

In Kalischt in Böhmen wird Gustav Mahler am 7. Juli 1860 geboren, in Iglau in Mähren besucht er Hauptschule und Gymnasium, erhält erste musikalische Unterweisungen mit dem Akkordeon und absolviert bereits als Zehnjähriger erste Auftritte als Pianist. In Wien studiert er ab 1875 am Konservatorium im Hauptfach Klavier und Komposition, ab 1877 ist er an der Wiener Universität eingeschrieben. In Bad Hall tritt er 1880 sein erstes Engagement als Kapellmeister am Sommertheater an. Die nächsten Stationen: Laibach, Olmütz, Kassel, Deutsches Theater in Prag, Leipzig, Operndirektor in Budapest, endlich, in den neunziger Jahren, das Hamburger Stadttheater.

Aus dem jungen aufstrebenden Dirigenten ist ein berühmter Mann geworden. Der will an die Spitze des führenden Opernhauses der Welt; die Wiener Staatsoper, und er schafft es auch. 1897 unterzeichnet Mahler einen Vertrag als Kapellmeister, im Juli wird er als stellvertretender Direktor mit der Leitung des Hofoperntheaters betraut, im Oktober zum „artistischen Director“ und Beamten auf Lebenszeit ernannt.

Und hätte Mahler keine einzige Note geschrieben – sein hervorragender Platz in der europäischen Musikgeschichte wäre doch unstrittig, und zwar als einer der großen Reformer des Musiktheaters. Kompromißlos, aber klug taktierend auch hier, reorganisierte Mahler den Theaterapparat und entrümpelte das Repertoire des Hauses zuerst musikalisch und dann auch szenisch.

Die Verpflichtung Alfred Rollers, Mitbegründer und Präsident der Wiener Secession, zum Leiter des Ausstattungswesens im Jahre 1903 eröffnete die Möglichkeit, das Verhältnis von Raum, Licht und Farbe neu zu justieren, was letztlich zu der Emanzipierung der einzelnen Schwesterkünste führte, die an einer Opernaufführung beteiligt sind, zur Entbindung der modernen Opernregie. „Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, ist nichts anderes als Eure Bequemlichkeit und Schlamperei!“ Wer auch immer diesen Ausspruch Mahlers zu dem Slogan „Tradition ist Schlamperei“ verkürzt, der hat weder von Mahlers Intention noch von Tradition auch nur das geringste verstanden.

Berühmt war Mahler zu Lebzeiten als Dirigent und Theaterleiter, jedoch als Komponist höchst umstritten und in seiner Bedeutung erkannt nur von einer kleinen Gemeinde hochgestimmter Geister. Mahlers kompositorisches Werk, das sind im wesentlichen neun Symphonien und das Fragment einer zehnten, „Das Lied von der Erde“, die Lieder eines fahrenden Gesellen, die Kindertoten-, Wunderhorn- und Rückert-Lieder und selbstverständlich das Werk, in dem sich Mahler laut Mahler als Mahler gefunden hatte und das er als sein Opus 1 bezeichnete, die Kantate „Das klagende Lied“.

Als er mit noch nicht einmal 51 Jahren starb, waren seine Neunte und „Das Lied von der Erde“ noch unaufgeführt, das Fragment der Zehnten nur Eingeweihten bekannt. Seine Noten schrieb der Ferienkomponist Mahler während der Spielzeitpausen im Sommer, strengem Zeitregime unterworfen, in eigens für ihn errichteten Komponierhäuschen in Steinbach am Attersee, in Maiernigg, in Toblach. Doch in den Noten findet sich alle Welt außerhalb der Hütten verwandelt wieder: Naturlaut und Volkston, Militärmarsch und synagogale, niedrige und hohe Musik, Musik des irdischen und himmlischen Lebens, zu Bruder Nietzsche und Bruder Jakob, des Nachklangs und der Vorahnung, Persönlichstes und Welthaltiges unauflösbar verschränkt.

Um die ersehnte Stelle an der Hof-oper zu erlangen, war der nicht praktizierende Jude zum Katholizismus konvertiert. Doch einmal Jude, immer Jude, insbesondere in Bürgermeister Karl Lue-gers Wien. Die antisemitischen Kampagnen gegen Mahler, spätestens seit seiner Kasseler Zeit nachweisbar und lange über seine Lebenszeit hinausreichend, wurden um so massiver geführt, als sich für seine Arbeit an der Wiener Hofoper unübersehbar und unüberhörbar Erfolg und für sein kompositorisches Werk zunehmend Verständnis einstellte; sie lieferten schließlich einen, wenn auch nicht den alleinigen Grund für Mahlers Demission.

Mahler trat eine Stelle als Chefdirigent an der Metropolitan Opera New York an. Ab 1909 leitete er das New York Philharmonic Orchestra, eben jenes Orchester, mit dem dann Leonard Bernstein ab 1960 seinen ersten Mahler-Zyklus einspielen sollte, der die weltweite Mahler-Renaissance einleitete.

Und hätte Mahler keine einzige Note geschrieben – sein hervorragender Platz in der Geschichte der Psychopathologie des modernen Künstlers wäre doch unstrittig, und zur Figur in Literatur und Film hat er es ja auch schon gebracht. Die Mahler-Literatur ist uferlos, zahlreiche Spezialuntersuchungen leuchten jede noch so kleine Station seines Wirkens aus, alle erreichbaren Fotografien liegen gesammelt vor, alle erreichbaren Tonaufnahmen seiner Werke sind katalogisiert, die Daten seiner Dirigate an der Wiener Staatsoper und der Metropolitan Opera New York lückenlos und die der Konzerte, die er dirigierte, soweit bekannt, erfaßt.

Und doch wird das Geheimnis dieses Lebens immer noch größer, das in dem Kaff Iglau begann und über das Wien der Gründerzeit bis in die Riesenstadt New York führte, dieses Leben eines Heimatlosen: „Ich bin dreimal heimatlos: als geborener Böhme in Österreich, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt. Überall ist man Eindringling, nirgends willkommen.“ Zuerst haben ihn die Wiener heimgeholt, dann die Deutschen zu einem der ihren gemacht und zuletzt reklamierten ihn die Juden als genuin jüdischen Komponisten für sich.

Spät erst hat die Musikwissenschaft die Spuren des politischen Menschen, des „Gefühlssozialisten“ aufgenommen, der während seines Studiums zum Kreis um den Dichterphilosophen Siegfried Lipiner stieß, mit Victor Adler und Engelbert Pernerstorfer bekannt wurde, der erste später Führer der österreichischen Sozialdemokraten, der zweite später Abgeordneter der sozialdemokratischen Partei. Und spät erst wurde nach sozialökonomischen Gründen für Popularisierung und eben auch Trivialisierung des Mahlerschen Werks gefragt.

In das Werte-Vakuum, wie es Hermann Broch für das Österreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts konstatierte, mit Wien als der Metropole des Werte-Vakuums, stieß Mahlers Musik hinein, und vielleicht stößt sie auf offene Ohren heute, weil die Situation als ganz ähnliche empfunden wird. Und weil, nach einem Wort von Hans Werner Henze, „ein Reden in dieser Musik“ ist „wie von tausend Menschenstimmen, sie hat die einfachsten Formulierungen für schwierigste Zustände. Mensch und Natur erleben ihren Konflikt in ihr auf eine Weise, wie es nie zuvor dargestellt, ausgesprochen worden ist“.

Mahlers Musik läßt uns der Krise innewerden, weil sie selbst permanente Krise ist. Sie ist immer schon allhie, wo der Hörer noch auf dem Wege zu ihr ist, und immer wieder schon dort, von wo er aufgebrochen war, um nie wieder zurückzukehren. Sie ist Musik über Musik, Welt aus der Welt, weltabhanden und dabei immer in der Welt, autonom und doch sprachähnlich. Nicht in weichgespülten und konfektionierten Aufführungen, wohl aber in den wenigen kostbaren, die uns in der Musik des fremden Vertrauten das Vertraute als Fremdes hören lehren, wird Mahlers Weltanschauungsmusik immer neu zu einer Musik, die auf Veränderung des Hörers und seiner Welt aus ist. Dann macht sie Heimweh nach Zukunft.

Foto: Gustav Mahler (1909): „Ich bin dreimal heimatlos (…) Überall ist man Eindringling, nirgends willkommen“

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