© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Gespinst des Schweigens um die Greuelgeschichten
Alfred de Zayas analysiert, inwieweit die Deutschen im Dritten Reich Kenntnisse über den Judenmord hatten
Stefan Scheil

Der amerikanische Historiker und Völkerrechtler Alfred de Zayas ist als Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte bekannt, die immer fundiert waren und häufig heikle Punkte ungewohnt deutlich ansprachen. Dazu gehörte etwa die Verantwortung auch der westlichen Alliierten für die Ausmordung Ostdeutschlands nach 1945, die sogenannte Vertreibung, oder seine unzeitgemäßen Untersuchungen über die deutsche Wehrmachtsuntersuchungsstelle und die penibel-korrekte Arbeit der dortigen Juristen. Nun widmet sich de Zayas einem weiteren, scharf diskutierten Thema, dem Wissen oder Nichtwissen der deutschen Bevölkerung über die „Endlösung der Judenfrage“, den Holocaust.

Es hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht an Darstellungen gefehlt, die den Deutschen ein allgemeines Mitwissen unterstellt haben, ja manche darüber hinaus sogar ein allgemeines Mitwollen. De Zayas bezieht sich damit direkt auf die Goldhagen-Debatte, in der der amerikanisch-jüdische Historiker Daniel Goldhagen mit „Hitlers willige Vollstrecker“ in der Mitte der 1990er Jahre die Diskussion durch einen Kollektivschuldvorwurf an alle Deutschen anheizte. Seine Behauptungen über einen eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen wurden zwar von der Zeitgeschichtsforschung abgelehnt und heftig kritisiert, wie es jetzt erneut von Alfred de Zayas geschieht, aber etwas bleibt bekanntlich immer hängen. Das war auch hier der Fall. Die Zahl der Täter wurde in der Folgezeit entsprechend hochgerechnet und jeder Schrankenwärter gehörte bald mit dazu. Pauschalschuldbekenntnisse, wie sie danach beispielsweise von der Deutschen Bahn zu hören waren, sind ohne Goldhagen kaum vorstellbar.

Man merkt dem Buch von de Zayas an, wie sehr den Autor diese und andere Auswüchse der negativen Vorurteile über die Deutschen im Zusammenhang mit der Holocaust-Forschung geärgert haben. Er setzt deshalb konsequent ganz neu an und zeigt den Völkermord als das Staatsgeheimnis, das er nach dem Willen der Diktatur sein sollte. Im Dritten Reich der Kriegszeit galt der oberste Grundsatz, daß niemand etwas zu wissen hatte, das ihn nicht unmittelbar anging und dies auch erst dann, wenn es zur Erfüllung seiner Aufgaben tatsächlich notwendig war. Diesen „Führerbefehl Nr. 1“ hat Hitler im Januar 1940 erlassen. Er hing in jeder Schreibstube. Wer durch Tratsch oder unautorisierte Weitergabe von Informationen gegen ihn verstoßen hat, mußte mit Konsequenzen rechnen. Mit zunehmender Kriegsdauer konnten dies immer öfter tödliche Konsequenzen sein, auch und gerade für das Verbreiten sogenannter Greuelgeschichten.

Auf diesen Führerbefehl verweist de Zayas als die Basis für alles, was zwischen 1940 und 1945 geschehen ist. Er kann dabei überzeugend zeigen, daß sich die NS-Führung ganz besonders in der Frage der Judentötung bewußt um größte Geheimhaltung bemühte und daß entscheidende Personen wie Heinrich Himmler auch der Meinung waren, daß diese Geheimhaltung erfolgreich gewesen sei. Dem deutschen Volk könne man vielleicht einmal irgendwann etwas darüber sagen, äußerte sich Himmler 1943. Bis dahin müsse dies ein „ungeschriebenes Ruhmesblatt“ bleiben, was auch geschah. Eine Geschichte wie die des SS-Richters Konrad Morgen, der den Vorgängen während des Krieges anhand von Indizien auf die Spur kam und sogar Ermittlungen gegen Adolf Eichmann einleitete, wäre anders gar nicht zustande gekommen.

Als Jurist weiß und betont de Zayas, daß Zeugenaussagen aus der Nachkriegszeit sorgfältig geprüft werden müssen. „Nichts gewußt“ zu haben, kann eine Schutzbehauptung sein. Also klopft er die Aussagen auf innere Folgerichtigkeit ab und die Biographien der Zeugen auf ihre Glaubwürdigkeit. Dabei stößt er zunächst einmal auf etliche Aussagen der prinzipiell unmittelbar von Verfolgung und Tötung bedrohten Personen. Dazu gehört etwa die Familie des späteren Bundeskanzlers und damaligen Wehrmachtoffiziers Helmut Schmidt, in der nichts über die Tötungen bekannt war. Im Einklang mit dem israelischen Militärhistoriker Bryan Mark Rigg kann de Zayas festhalten, daß dies flächendeckend für „Hitlers jüdische Soldaten“ galt, die als Veteranen unisono bezeugten, keine Kenntnis von genozidalen Judentötungen gehabt zu haben und dementsprechend auch keine Befürchtungen, selbst zu deren Opfer zu werden.

Eine andere Gruppe von Zeugen stellten die deutsch-jüdischen Exilanten. De Zayas zitiert Hans Lamm, den späteren langjährigen Präsidenten der israelischen Kultusgemeinde von München und Kulturdezernenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Auch Lamm kam nicht vor Kriegsende, als die entsprechenden Nachrichten durch die Weltpresse gingen, auf den Gedanken, daß die von Hitler öffentlich proklamierte „Ausrottung des Judentums“ tatsächlich wörtlich zu verstehen gewesen sei. Die Nürnberger Apartheidsgesetzgebung schien ihm zu Entrechtung, Deportationen, Ghettobildung und Zwangsarbeit zu führen, nicht zum systematischen Massentod. Diese Einstellung teilten offenkundig selbst die Deportierten und schließlich Getöteten in der Regel bis zum Ende.

Man könnte dafür auch noch erheblich mehr Belege anführen, als dies de Zayas in seiner quellennahen und zitatgesättigten, aber komprimierten Darstellung tut. Spricht nicht Hitlers mehrfache öffentliche Ankündigung der Ausrottung des Judentums gegen die These vom allgemeinen Nichtwissen? De Zayas weicht auch dieser Frage nicht aus und kann sie letztlich mit nein beantworten. Zwar trugen diese Reden zusammen mit den Deportationen zum Aufkommen von Gerüchten bei, die dann eine gewisse, aber kaum rekonstruierbare Verbreitung fanden. So enthielten etwa die Flugblätter der Weißen Rose einige – unzutreffend niedrige – Zahlenangaben. Von Mitwissen der Deutschen am Holocaust kann aber insgesamt nicht gesprochen werden, dies hält auch der jüngst verstorbene Völkerrechtler Karl Doehring in seinem Vorwort fest. Al­fred de Zayas stellt die zwischenzeitlich in Mode gekommenen Vorurteile über die Deutschen und den Holocaust nachhaltig in Frage.

Alfred de Zayas: Völkermord als Staatsgeheimnis – Vom Wissen über die ’Endlösung der Judenfrage’ im Dritten Reich. Olzog Verlag, München 2011, gebunden,204 Seiten, 26,90 Euro

Foto: Der Reichsführer SS Heinrich Himmler inspiziert 1936 das Konzentrationslager Dachau: „Ungeschriebenes Ruhmesblatt“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen