© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Tiefe Risse im Bildungsfundament
Grundlagen des Lesens: Eine vernachlässigte Kulturtechnik wird neurowissenschaftlich erklärt
Wilfried Voss

Schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts lag die Lese- und Schreibfähigkeit der Bevölkerung Preußens bei 85 Prozent. Frankreich und England hinkten mit etwa 55 Prozent deutlich hinterher. Ähnliche Relationen ergaben sich aus dem Vergleich der Schulstatistiken. Neun von zehn Kindern besuchten in Preußen regelmäßig eine Schule. In England waren es sechs von zehn.

Ohne diesen hohen Stand der Alphabetisierung wäre Preußen-Deutschland nicht binnen zweier Generationen der Sprung an die Weltspitze der Industriestaaten gelungen. Gesteigert wurde der Wert dieses Humankapitals durch beispiellose Investitionen in das Bildungssystem. Allein der preußische Kultusetat stieg zwischen 1850 und 1911 von zehn auf fast 300 Millionen Mark.

Im Zenit des „naturwissenschaftlichen Zeitalters“ (Werner von Siemens), kurz vor der Gründung großbetrieblicher Forschungsinstitute in Berlin-Dahlem, dem „deutschen Oxford“, durfte der Kirchenhistoriker und Wissenschaftsmanager Adolf von Harnack 1909 daher stolz bilanzieren, das Niveau von Wissenschaft und höherem Unterricht im Deutschen Reich werde von keiner anderen Kulturnation übertroffen.

Seitdem sind hundert Jahre vergangen. Eine breite Debatte über die Qualität deutscher Schulen, ausgelöst durch „Pisa-Studien“, vermittelt inzwischen den Eindruck, als sei man auf die Stufe von Briten und Franzosen um 1850 zurückgefallen. Dazu paßt eine Studie der Universität Hamburg, die Ende Februar die Zahl der Analphabeten hierzulande korrigierte: statt der bislang geschätzten vier gebe es 7,5 Millionen. Außerdem sei 13, 3 Millionen Erwerbstätigen fehlerhaftes Lesen und Schreiben zu attestieren. Zu Recht, allerdings ohne die „multikulturellen“ Ursachen dieser Misere zu thematisieren, kommentierte die taz: „Im Fundament der Bildungsrepublik bröckelt es.“

Welche Bedeutung angesichts einer solchen Abwärtsspirale der neurowissenschaftlich gestützten Leseforschung zukommt, ist schwerlich zu überschätzen. Das 2007 erstmals auf französisch publizierte Kompendium des am Collège de France lehrenden Kognitionswissenschaftlers Stanislas Dehaene über das Lesen als „größte Erfindung der Menschheit“ hätte darum zu keinem günstigeren Zeitpunkt auf dem deutschen Markt erscheinen können.

Um die Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens zu ergründen, ist dem 1965 geborenen Mathematiker und Psychologen am Collège de France ein Lehrstuhl für Experimentelle Wahrnehmungspsychologie neu eingerichtet worden. Die erste Hälfte seines für naturwissenschaftliche Laien geschriebenen Buches beschäftigt sich daher mit der Darstellung elementarer hirnphysiologischer Vorgänge, die den visuellen Eindruck eines Buchstabens, Wortes oder Satzes in Sprachlaute und die Erkenntnis ihrer Bedeutung transformieren.

Dank ausgefeilter bildgebender Techniken läßt sich in der neuronalen Architektur des Gehirns die Spur der Zeichen bis in die Region des linken hinteren Schläfenlappens verfolgen, einem Schnittpunkt des zerebralen Netzwerks, das die Wortbildung organisiert. Daß in diesem Hirnareal oder seiner nächsten Nachbarschaft „ein visuelles Zentrum für Buchstaben“ liegen könnte, vermutete der Neurologe Joseph-Jules Déjerine bereits um 1890, als er einen „wortblinden“ Patienten behandelte, der infolge eines Schlaganfalls seine Lesefähigkeit eingebüßt hatte.

Mit modernen Methoden, die an Déjerine anknüpften, gelang zwar eine präzisere Lokalisation unserer Fähigkeit zu visueller Erkenntnis. Aber gleichzeitig mußte die Forschung vermeintliche Gewißheiten über die Funktionsweise des Gehirns aufgeben. Nicht verwunderlich bei einem System, das innerhalb weniger Zehntelsekunden anhand einiger Striche auf der Retina aus 50.000 Wörtern, die ein Mensch durchschnittlich parat hat, das passende herausfindet. Ungeachtet vieler Rätsel, unter denen das Bewußtsein als spontaner Aktivitätszustand und die neuronale Sinnproduktion die größten sind, veranschaulicht Dehaenes so kurzweilige wie kompakte Darstellung, „wie Lesen funktioniert“.

Und er zeigt auf zwei Feldern, welche praktischen Konsequenzen aus diesen Einsichten in die neuronalen Strukturen einer erst sechstausdend Jahre alten Kulturtechnik erwachsen: auf dem Gebiet der Legasthenie und jenem Kampfplatz, auf dem sich Linguisten, Psychologen und Pädagogen seit langem um die beste Methode des Leseerwerbs streiten. Im Fall der Legasthenie, der Leseschwäche oder -störung, von der etwa in den USA fast 17, in Deutschland und Frankreich vier bis acht Prozent der Bevölkerung betroffen sind, ist es seit 1995 in raschen Schritten geglückt, die biologischen Grundlagen aufzudecken.

Wieder geriet der linke Schläfenlappen ins Visier der Forscher, der bei Legasthenikern eine tiefgehende Desorganisation aufweist. Seit kurzem sind die genetischen Mechanismen bekannt, die diese Anomalien determinieren. Irreversibel sei die Störung aber nicht. Wie man Kurzsichtigkeit mit einer Brille korrigiere, so entwickle man gerade bei einem so plastischen Organ wie dem Gehirn wirksame Interventionsstrategien, um Leseschwächen zu kompensieren.

Um den normalen Leseunterricht endlich zu optimieren, sollte man sich europaweit schleunigst von der einst mit „antiautoritärem“ Zungenschlag empfohlenen „Ganzwortmethode“ verabschieden. Denn neurowissenschaftlich sei ihre Ineffizienz erwiesen. Also beginne die Geburt des Lesers wieder nach der bewährten Methode des Erlernens von Buchstaben.

Das verlange von Kindern besonders in Zeiten medialer Reizüberflutung mehr Geduld und Aufmerksamkeit, führe jedoch zu einer stabilen, die Intelligenz fördernden Alphabetisierung. Eine Einsicht, die sich bis zum Fernsehliebling Günther Jauch herumgesprochen hat. Die Zerstreuungskultur, die ihn zum Millionär machte, bedrohe den Nichtleser mit dem tristen Schicksal, als „trüber Dauerglotzer“ zu enden, wie der aus einem alten Hamburger Hanseatengeschlecht stammende Wahlpotsdamer selbstkritisch im April in der Hörzu gestand.

Stanislas Dehae­ne: Lesen. Die größte Erfindung der Menschheit und was dabei in unseren Köpfen passiert, Verlag Albrecht Knaus, München 2010, 470 Seiten, gebunden, 24,99 Euro

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