© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Umwelt
Atomtest ohne Streß
Volker Kempf

Grenzwerte definieren die Belastbarkeit. Streßtests sollen aufzeigen, ob jemand oder etwas einer Extremsituation gewachsen ist. Die Realität sieht aber anders aus. So wird bei der Festlegung von Dioxin-Grenzwerten für Lebensmittel nicht nur darauf abgestellt, wieviel des Giftes ein Mensch maximal aufnehmen sollte. Berücksichtigt wird auch, wieviel Dioxin ein Lebensmittel im Durchschnitt enthält. Sind Aale im Schnitt stark dioxinbelastet, werden die Grenzwerte einfach angepaßt – ein gefundenes Fressen für Verbraucherschützer. Mit den Streßtests für Atomkraftwerke sieht es kaum anders aus. Denn Brüssel hat entgegen einer früheren Einigung der 27 EU-Staats- und Regierungschefs nun dem Druck der Atomlobby nachgegeben: AKW-Streßtests sind nur für Naturkatastrophen durchzuführen. Länder, die weiterhin strengere Streßtests wollten, die auch die Gefahr von Terroranschlägen berücksichtigen, könnten dies freiwillig tun, hieß es aus Kreisen des EU-Energiekommissars Günther Oettinger (CDU).

Das klingt nach einem Zugeständnis an die nationale Souveränität, ist aber angesichts der grenzenlosen Bedrohung, die eine Atomkatastrophe in sich birgt, von gestern. Denn fiele das französische AKW Fessenheim einem Anschlag zum Opfer, wäre auch Deutschland betroffen: zu zwei Dritteln weht der Wind dort gen Osten. Und so abwegig ist ein Terroranschlag auf ein AKW nicht. Erst vor wenigen Tagen wurden Verdächtige nahe dem britischen Nuklearkomplex Sellafield (hier gab es 1957 auch den ersten größeren zivilen Atomunfall) festgenommen. Der größte Schwachpunkt für die Sicherheit von Atom­anlagen bleibt die Bürokratie, die Risiken und Grenzwerte nach ihrem eigenen Gutdünken festlegt.

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