© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

„Uououooo Uououooo“
Der europäische Sängerwettstreit in Deutschland: Unser Autor ist von Lena begeistert – Sie auch?
Harald Harzheim

Wie es um den europäischen Gedanken steht, läßt sich nirgendwo genauer ablesen als in der Populärkultur, die den Geschmack der Massen treffen muß. Der „Eurovision Song Contest“, der in diesem Jahr nach 1957 und 1983 zum dritten Male in Deutschland stattfindet, ist so ein Indikator für den Massengeschmack – und der ist im Gegensatz zur Gründungzeit des „Grand Prix d’Eurovision“ Mitte der 1950er Jahre unverkennbar anglophon.

Auffällig sind auch die Parallelen zur Europäischen Union mit kleinen Sonderrechten für große Zahlmeister: Die finanzkräftigsten Mitglieder der Europäischen Rundfunkunion – Frankreich, Italien, Spanien, England und Deutschland – sind für das Finale am 14. Mai in der Düsseldorfer Esprit-Arena gesetzt. In ihren Beiträgen zu diesem Musikspektakel synthetisieren sich nationalkulturelle Spuren mit der globalen Popkultur und ihrem Hauptthema: Liebe.

Frankreich zum Beispiel verteidigt 2011 seinen Ruf als Heimat bürgerlicher Hochkultur, indem es den Opernsänger Amaury Vassily ins Rennen schickt. Der, durch künstlerische „Schwarzarbeit“ bei Filmmusik und Rock-Cover-Versionen ohnehin ein Grenzgänger, weint mit kräftiger Opernstimme seinem verlorenen „Sognu“ (Traum), einer Liebschaft nach. Unterlegt mit Bolero-Klängen, singt er im korsischen Regionaldialekt. Das klingt dem Italienischen, der Opernsprache also, sehr ähnlich.

Apropos Italien: Deren Vertreter Raphael Gualazzi, in Gamaschenschuhen am Piano sitzend, mixt klassisch-italienische Schlager-Traditon mit Einflüssen von Ray Charles und Billy Holiday. Der im Liedtext beschworene „Madness of Love“ (Wahnsinn der Liebe) bezieht sich auf eine Frau, die ihn verläßt. Dennoch wünscht er ihr beim nächsten „Lover“ alles Gute. Ein echter Gentleman. Demgegenüber scheint die Boygroup „Blue“ das Königreich England rehabilitieren zu wollen, setzen die muskulösen Jungs doch Obamas „Yes, we can“ das individuelle „I can“ entgegen. Was genau die können? Angeblich ihren Liebeskummer überleben. Etwas Trotziges, Pragmatisches springt da entgegen, wie man es aus dem „neuen Realismus“ englischer Filme und Dramen à la Ravenhill oder Mike Leigh kennt, verdünnt mit neumodischem Wellness-Geist.

Der Dichter Barbey d’Aurevilly klagte im 19. Jahrhundert, Goethe habe in seinem Werk nur langweilige Gretchen, nicht aber mal eine feurige Spanierin vorzuweisen. Sieht man die Sängerin Lucia Perez, ahnt man, was er vermißte: Die Kleine ist pures Feuer, hat heißes Blut, ihr Clip zeigt sie in rauschendem Karneval. Darin präsentiert sie ihre musikalische Urschrei-Therapie, „Uououooo Uououooo“, der Freudenruf über eine gelingende Liebe.

Übrigens sind auch hiesige Mädchen keine Gretchen mehr. Das beweist Lena Meyer-Landrut mit ihrem Beitrag „Taken by a stranger“ (Von einem Fremden genommen). Sie ist eine absolute Überraschung: Feierte ihr Sieger-Hit 2010 „Like a satellite“ noch die fröhliche Selbstaufgabe an schulmädchenhafte Fixierung, so scheint sie ein Jahr später „erwachsen“. Vorbei das Flippige, Alberne, Überschwengliche. Im schwarz-weißen Videoclip geht sie im langen schwarzen Abendkleid durch schattenhafte Korridore eines Luxushotels.

Sofort denkt man an die Hollywood-Diven der „schwarzen Serie“, in ihrer geheimnisvollen Eleganz. Dazu paßt der Text. Nicht Trauer um Verlorenes ist Thema. Auch keine aufgesetzte Selbstermunterung. Sondern das Einlassen auf das Dunkel, auf die Nacht. Sich nicht ängstigen, keine Wunden lecken, sondern Offen-sein für das Abenteuer.

Der Text reimt „Stranger“ (Fremder) auf „Danger“ (Gefahr), verspricht mit dunklem Sound-Teppich lustvoll-gefährliche Abenteuer der Nacht. Nichts wie rein. Diese dunkle Film-noir-Eleganz wurde im Hollywood der Vierziger von deutschen Emigranten kreiert, darin den heimischen Expressionismus fortsetzend.

An diese beste deutsche Tradition knüpft Lena Meyer-Landrut an, zitiert im Clip gar dessen ureigenstes Symbol, den zerbrochenen Spiegel. Oder zeigt ihr Gesicht mit stummfilmhaft umrandeten Augen. Deutschland: elegant, weltoffen, angstfrei, mit lustvoller Offenheit gegenüber dem Dunkel der Existenz, in der Synthese eigener Wurzeln mit US-Ästhethik eine moderne Identität gestaltend: Stößt solch eine Phantasie auf Publikumsinteresse? Laut Google-Prognose steht Lena mit ihrem Song bereits auf Platz 2. Tendenz steigend.

 www.eurovision.de

Foto: Lena Meyer-Landrut: Die 19jährige Abiturientin liegt in den Google-Prognosen bereits auf Platz 2 – Tendenz steigend

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